Das Jugendheim Siebenschläfer scheint perfekt. Aber die 16-jährige Bewohnerin Lilly wird tot aus einem See gefischt. Kommissarin Leonie Winkler muss ohne ihre Kollegin ermitteln – bekommt aber Hilfe von ihrem Chef, der überraschend zum Star dieses Dresdner "Tatort"-Falles wird.

Eine Kritik
Diese Kritik stellt die Sicht von Iris Alanyali dar. Informieren Sie sich, wie unsere Redaktion mit Meinungen in Texten umgeht.

Beginnen wir mit dem Ende. Nicht um zu spoilern, sondern, weil es so schön ist und in wenigen Worten von dem erzählt, um das es in "Siebenschläfer" geht. Kommissariatsleiter Peter Michael Schnabel (Martin Brambach) zitiert ein Gedicht des DDR-Lyrikers Thomas Brasch: "Was ich habe, will ich nicht verlieren, aber/ wo ich bin, will ich nicht bleiben, aber/ Die ich liebe, will ich nicht verlassen, aber/ die ich kenne, will ich nicht mehr sehen aber/ Wo ich lebe, da will ich nicht sterben, aber/ wo ich sterbe, da will ich nicht hin:/ Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin".

Thomas Brasch sei "auch so einer" gewesen, sagt der Melancholiker Schnabel zu seiner Kollegin Leonie Winkler (Cornelia Gröschel), "der auf der Suche war. Nach einem Zuhause". So wie die Jugendlichen, um die es in "Siebenschläfer" geht.

Das Siebenschläfer ist ein Heim für Kinder und Jugendliche, die aus Elternhäusern kommen, in denen die Erwachsenen mit der Erziehung überfordert waren. Es sind nicht unbedingt schwer erziehbare Kinder, es sind vor allem Kinder, die es nicht leicht hatten in ihrem bisherigen Leben.

Das "böse" Jugendamt

Der Jugendamtsmitarbeiter Torsten Hess (Peter Moltzen) wird Schnabel und Winkler später ein Foto unter die Nase halten, von einem hungrigen kleinen Jungen in einer dreckigen Wohnung. "Schauen sie hin!", wird er befehlen, "so sieht es aus, wenn das 'böse' Jugendamt ein Kind 'aus seiner Familie reisst'! Aber eine Familie kann auch eine Hölle sein". Das Jugendamt in Gestalt des gestressten Torsten Hess ist eines der Räder eines überforderten Sozialsystems, von dem "Siebenschläfer" erzählt – und davon, was passiert, wenn diese Räder durchdrehen.

Als Schnabel und Gröschel die schöne Altbauvilla am Wald besuchen, sieht es nach einem Vorzeigeheim aus. Eher wie ein Ferienlager. Man kann reiten, grillen oder im nahen Baggersee schwimmen gehen. Aber aus diesem See wurde die 16-jährige Lilly-Marie (Dilara Aylin Ziem) tot herausgefischt. In der Nacht zuvor ist sie mit ihrem Freund Pascal (Florian Geisselmann) aus dem Heim abgehauen. Und jetzt ist Pascal auf der Flucht.

Desinteressierte Psychiater

Die Heimleiterin Saskia Rühe (Silvina Buchbauer) beschreibt den 17-Jährigen als ein aggressives Problemkind, das mit Medikamenten behandelt werden müsse. Und tatsächlich sehen wir Pascal kurz darauf, wie er bei einer früheren Erzieherin auftaucht und sie um Hilfe bittet. Und als sie ablehnt, geht er auf sie los.

Während die Fahndung nach dem Jungen läuft, versuchen Schnabel und Winkler im Siebenschläfer, die Gründe für den Tod Lillys und die Flucht der beiden Jugendlichen zu finden. Bei dem Psychiater, der sich um die Behandlung der Bewohner kümmert, kommen sie nicht weit: Lukas Brückner (Hanno Koffler) erklärt Krankheitsbilder und spricht über mögliche Auswirkungen der Medikamente, aber "der Rest ist Spekulation". Über Motive und Motivationen könne er nichts sagen. Das macht Schnabel stutzig. Ein Psychiater, der sich so betont fernhält von der Psyche seiner Schützlinge? Man merkt schnell, dass der Fall den Kommissariatsleiter persönlich berührt. Und bald erfahren wir auch, warum.

Ermittler Schnabel zeigt sich von einer neuen Seite

Leonie Winkler muss ohne ihre Kollegin Gorniak ermitteln (weil Darstellerin Karin Hanczewski aufhören wollte), und mangels Personal springt Peter Michael Schnabel ein. "Siebenschläfer" (Buch: Silke Zertz und Frauke Hunfeld) nutzt die Gelegenheit, den sonst so jovial-konservativen Chef von einer anderen Seite zu zeigen und ihm mehr Nuancen zuzugestehen – und Schnabel wird zum liebenswerten Sympathieträger dieses "Tatort".

Ist er zu Beginn noch der wie üblich belächelte, ungelenke Schreibtischtäter, der über Tatorte trampelt und ohne Handschuhe nach Beweisstücken grapscht, so entpuppt er sich schnell als einfühlsamer Ermittler, der wesentlich zur Lösung des Falles beiträgt.

Ein zweiter Tod

Ausgerechnet der korrekte Kommissariatsleiter nämlich ist es, dem das Siebenschläfer und seine Funktionsträger nicht geheuer sind. Sie wirken so wahnsinnig kompetent, haben die Lage dermassen professionell im Griff. Sicher, man ist überarbeitet und unterbesetzt. Aber es scheint, als ob eine tote Heimbewohnerin und ihr verschwundener, hoch aggressiver Freund nur eine weitere lästige Störung im Betriebssystem sind, die es zügig aus der Welt zu schaffen gilt, damit der gewohnte Ablauf weitergehen kann.

Aber allmählich werden diese Funktionsträger immer nervöser. Und dann ist einer von ihnen nicht nur tot – er ist übertötet, wie man das nennt, wenn jemand schlimmer zugerichtet wird, als es für die Tötung nötig wäre. Je mehr Emotionen hochkochen, desto stärker gerät das scheinbar so solide Jugendheim ins Wanken.

Auf der Suche nach einem Zuhause

Der Dresdner "Tatort" steht für gründliche Ermittlungsarbeit, für authentische, sorgfältig besetzte Figuren und für Fälle, die gesellschaftliche Missstände mit Verständnis und wenig Polemik aufgreifen. Wären es die Nachrichten, könnte man von "ausgewogener Berichterstattung" sprechen. "Siebenschläfer" ist da keine Ausnahme und keine Enttäuschung.

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Ruhig, aber eindringlich erzählt der Film (Regie: Thomas Sieben) von den Leidtragenden eines Systems, das nur noch mühsam und mehr schlecht als recht Symptome behandeln kann, weil der gesellschaftliche Wille und damit auch das Geld fehlt, das Übel an seinen Wurzeln zu packen. Weil Jugendämter, Sozialhilfe, Gesundheitswesen unterbesetzt und überfordert sind, bekommen nicht nur überforderte Eltern keine ausreichende Unterstützung, es sind vor allem die Kinder und Jugendliche, deren Zukunft früh verbaut wird – die einfach keinen Ort finden, an dem sie geschützt, gefördert und vielleicht sogar geliebt werden.

Thomas Braschs Gedicht hält es für utopisch, ein Zuhause zu finden. "Siebenschläfer" aber zeigt nicht nur Verständnis für die fragwürdigen Methoden, mit denen hier versucht wird, ein Zuhause zu finden. Es schwingt sogar eine leise Hoffnung mit, dass die Suche Erfolg haben könnte selbst für jene, die sich am Ende wähnten.