Aufklärung über die Verbrechen der Nazi-Zeit - und das auf TikTok? Auf dem Account von Susanne Siegert passiert genau das. Sie hat es sich zur Aufgabe gemacht, Dinge über den Holocaust zu recherchieren, die junge Menschen nicht in der Schule lernen. Im Interview spricht sie darüber, wo sie in ihren Videos die Grenze zieht und welche Geschichte sie zuletzt besonders berührt hat.

Ein Interview

Susanne Siegert spricht schnell in ihren Videos. Sie hat nur wenig Zeit und das weiss sie. Denn wie erklärt man den Unterschied zwischen einem Vernichtungslager und einem Konzentrationslager in anderthalb Minuten? Oder ob die Nazis wirklich Seife aus Menschen hergestellt haben?

Mehr zum Thema Geschichte & Archäologie

Auf ihrem Kanal "keine.erinnerungskultur" bei Instagram und TikTok bietet Siegert Aufklärung über Holocaust-Mythen, Anleitungen dazu, wie man über die Nazi-Vergangenheit der eigenen Familie recherchieren kann, und vergessene Geschichten über Menschen, die den Holocaust möglich gemacht, und über solche, die ihn überlebt haben.

Lesen Sie auch

Ihr Weg zu mehr als 200.000 TikTok-Followern und einem Grimme-Preis, den sie 2024 für ihre Arbeit erhielt, begann in einem KZ-Aussenlager Dachaus, im Mühldorfer Hart. Sie war in der Nähe aufgewachsen und hatte doch nicht gewusst, dass ein solcher Ort nur wenige Kilometer entfernt existierte. Sie begann zu recherchieren und war überrascht, wie viele Informationen zur NS-Zeit online zugänglich waren. Dieses Wissen begann sie schliesslich online zu teilen.

Frau Siegert, Ihr Slogan ist: "Alles, was du in der Schule NICHT über Nazi-Verbrechen lernst" – was sind das für Dinge?

Susanne Siegert: Was ich erzähle, sind oft nischige Dinge. Und ich glaube, sie bleiben deswegen im Kopf, weil man sie nicht schon hundert Mal gehört hat. Ausserdem braucht man kaum Vorwissen, um sie zu verstehen. Zum Beispiel, was es bedeutet hat, dass Wachhunde in Konzentrationslagern genutzt wurden und sie auf Kommandos wie "Hol den Juden" Menschen angegriffen haben. Oder wie es für weibliche Gefangene war, keine Menstruation mehr zu haben und dann Jahre nach dem Krieg noch Probleme zu haben, Kinder zu bekommen. Das sind Themen, die ein Puzzlestück sein können im Verstehen von dem System dieser Verbrechen. Und deswegen sind das Themen, die mir am Herzen liegen.

Und deswegen wollten Sie sie gern mit anderen teilen?

Genau. Zunächst war ich eher bei Instagram, aber habe dann TikTok für mich entdeckt, weil ich dort eine jüngere Zielgruppe erreiche. Mein Ansatz ist, in einfacher Sprache Wissen zu vermitteln, ohne dass man viel Vorwissen haben muss. Ich habe den Eindruck, dass es gerade jüngere Menschen sind, die nicht mit ihrem Vorwissen in den Kommentaren glänzen wollen, die auch mal andere Fragen stellen und aus ihrem Leben erzählen. Zum Beispiel schrieb mir mal jemand "Ich gehe auf die Sophie-Scholl-Schule, kannst du da mal was zu machen?"

Die Nazi-Zeit ist weiterhin fest in den Lehrplänen in der Schule verankert, doch immer mehr Zeitzeugen sterben und das Geschehene rückt immer weiter weg. Hat sich dadurch das Gedenken bei jüngeren Menschen verändert?

Mein Eindruck aus den Kommentaren ist, dass es weniger Ablehnung gibt als vielleicht noch bei anderen Generationen, die das Gefühl haben, dass ihre Angehörigen angegriffen werden, wenn es um die Nazi-Verbrechen geht. Weil es nun mal ihre Grosseltern sind und sie diese noch gekannt haben. Deswegen, glaube ich, dass die Jüngeren da offener sind und oft gar nicht die Verbindung herstellen, dass es auch mit ihrer Familie zu tun haben könnte.

Ist diese emotionale Distanz aber nicht auch problematisch?

Total. Man sollte sich absolut darüber im Klaren sein, dass wir in einem Land leben, in dem diese Verbrechen passiert sind. Unser aller Leben ist davon beeinflusst – wegen dieser Verbrechen, der Tatorte und Spuren, die es noch immer gibt, ist Deutschland ja auch heute so, wie es ist. Allein deswegen müssen wir immer darüber sprechen. Aber ich merke auch, dass es eine grössere Offenheit gibt und auch viel Interesse zu anderen Perspektiven. Zum Beispiel hat mir mal jemand geschrieben "Meine Schwester hat eine Behinderung. Was wäre damals mit ihr passiert?" Da ist dann doch immer dieser Bezug zur eigenen Lebenswelt da.

Die Themen, über die Sie in Ihren Videos sprechen, zeigen die ganze Grausamkeit der Nazis. Wie erklärt man das in 90 Sekunden auf einer Plattform wie TikTok, wo man Dinge schnell auf den Punkt bringen muss?

Ich glaube, es ist alles gar nicht immer so schwierig. Auch in Dokumentationen und "Tagesschau"-Beiträgen muss gekürzt werden. Man wird die meisten Dinge nie vollumfänglich abbilden können, weil es einfach so vielschichtig ist. Ich glaube, der Vorteil bei TikTok ist, dass man so viele Dinge zeigen und kombinieren kann. Also ich bin dort als Sprecherin und dann kann ich mit Ausschnitten von Reden, Filmaufnahmen von KZs, Interviews mit Überlebenden, Dokumenten aus den Lagern arbeiten – und das alles komprimiert auf anderthalb Minuten.

"Ich bin eine grosse Verfechterin dieser Plattform, egal wie man sie auch kritisieren mag, aber man muss eben da sein, wo junge Leute gerade sind."

Susanne Siegert über TikTok

Wie erreichen Sie Leute, die sich nicht für das Thema interessieren?

Ein Riesenvorteil bei TikTok ist, dass, wenn du die Sprache des Algorithmus sprichst, du eventuell Leuten ausgespielt wirst, die das Thema nicht selbst suchen würden. Das sind die, die keiner Gedenkstätte folgen, die vielleicht auch mir niemals folgen würden, aber das Video trotzdem angezeigt bekommen. Und beim sechsten Video bleiben sie mal hängen und merken, sie haben doch Interesse an dem Thema, vor allem, wenn es etwas ist, was sie noch nicht wussten. Ich bin eine grosse Verfechterin dieser Plattform, egal wie man sie auch kritisieren mag, aber man muss eben da sein, wo junge Leute gerade sind.

Und wie schaffen Sie es, dass die Leute dabeibleiben?

Man kann sich schon trauen, die Sprache der Plattform zu sprechen. Und das bedeutet eben, schnell zu sprechen und eher informell, so wie man normalerweise spricht. Es ist auch viel Handwerk dabei. Man muss wissen, dass man ein Video mit einem guten Einstieg beginnen muss, ansonsten sind die Leute nach 0,2 Sekunden wieder weg. Ich lerne sehr viel, indem ich mir Videos von anderen Creator*innen angucke, die ganz andere Themen behandeln, zum Beispiel Lifestyle, Serien oder Comedy. Die haben nun mal die grossen Reichweiten und das hat ja einen Grund. Da kann ich mir viel abgucken.

Wo setzen Sie die Grenze in Ihren Videos?

Ich zeige keine Fotos von Leichenbergen oder Szenen, wo ausgemergelte Menschen von Nazis an Händen und Füssen gepackt und auf Lastwagen geworfen werden. Ich weiss, dass diese Bilder Schockmomente sind und dadurch wirken, als wären sie aus einem Horrorfilm. Aber ich frage mich dann immer, wie wäre es für mich, wenn das meine Angehörigen wären? Deswegen will ich das nicht posten.

Inzwischen gibt es online viele KI-generierte Videos, da werden zum Beispiel sogenannte "POV-Videos" aus Auschwitz gezeigt, also aus der Perspektive eines Auschwitzhäftlings. Wie stehen Sie dazu? Ist das anmassend oder liegt darin auch eine Chance, besonders für junge Leute, sich dem Thema zu nähern?

Wenn man in die Kommentare schaut, finde ich es schon interessant zu sehen, wie viele diese Videos schauen. Ich denke, das ist ein Zeichen dafür, wie sehr junge Menschen sich Zugang zu dem Thema wünschen. Und diese Videos sind eine Form, die gerade bei ihnen im Medienkonsum stattfindet. Ich glaube schon, dass es eine Chance sein kann. Problematisch ist es natürlich, weil auch viele Falschinformationen durch solche Videos verbreitet werden. Man muss es schaffen, zum Beispiel als Institution oder als Gedenkort, aus diesen Formaten zu lernen und solche Inhalte dann faktenbasiert und interessant für eine junge Zielgruppe zu erstellen. Ich glaube, da muss an manchen Stellen eine gewisse Arroganz und ein Gefühl von Befremden abgelegt werden, weil wir nicht die Zielgruppe sind, die davon angesprochen werden soll.

"Und dann ist da dieser eine Fakt, dieses eine Zitat, dieser eine Auszug aus einem Gerichtsprotokoll, wo ich stocke und denke: Das habe ich noch nie gehört."

Susanne Siegert darüber, wie sie ihre Themen findet

Sie recherchieren zu diesem Thema jetzt schon seit einigen Jahren. Gab es einen Moment, der Sie besonders überrascht oder bewegt hat?

Eigentlich jedes Thema. Wenn ich recherchiere, gehe ich meistens nicht bewusst in eine Richtung, dann lese ich erst mal, höre mir Interviews an. Und dann ist da dieser eine Fakt, dieses eine Zitat, dieser eine Auszug aus einem Gerichtsprotokoll, wo ich stocke und denke: Das habe ich noch nie gehört. Dann bereite ich das vor und hoffe, dass es anderen Menschen genauso geht und es etwas in ihnen auslöst. Ich habe erst gestern zum Beispiel über die Irrfahrt des Schiffes "St. Louis" recherchiert.

Was ist da passiert?

Das war ein Schiff, das jüdische Geflüchtete 1939 nach Kuba bringen wollte. Doch noch während der Fahrt wurden die Einreisebestimmungen geändert und sie durften nirgends anlegen und mussten nach Europa zurück. Ungefähr 30 Prozent der Menschen auf diesem Schiff wurden später von den Nazis ermordet. Sie sind gestorben, weil sie nirgends aufgenommen wurden. 2018 hat sich Trudeau [Justin; damaliger Premierminister Kanadas; Anm.d.Red] dafür entschuldigt. Das sind so Momente, in denen ich denke: Ich bin schon so viele Jahre ein mitwirkender Teil der Gesellschaft, konsumiere Medien und trotzdem habe ich von dieser Geschichte erst jetzt gehört.

Was hat Sie an dieser Geschichte besonders fasziniert?

In einem Interview erzählen Überlebende, dass sie an Bord ihr erstes spanisches Wort gelernt haben: mañana, also "morgen".

Wieso ausgerechnet dieses Wort?

Weil auf dem Schiff immer alle gesagt haben: "Morgen, da könnt ihr runter, morgen kommen wir an." Sie dachten, morgen wären sie endlich in Sicherheit. Das ist so ein kleines Puzzleteil, was ich nie in meinem Leben vergessen werde. Und solche Momente habe ich jeden Tag.

Über die Gesprächspartnerin

  • Susanne Siegert ist Content Creatorin und Autorin. Sie berichtet auf Social Media unter dem Account "keine.erinnerungskultur" bei Instagram und TikTok von ihren Recherchen rund um die Nazi-Verbrechen im Holocaust, die man nicht in der Schule lernt. Ihr Buch "Gedenken neu denken" erscheint am 31. Oktober im Piper Verlag.