Der ehemalige Hamburger Umweltsenator Fritz Vahrenholt teilte Angaben über die Eisschmelze an den Polen. Doch seine Behauptungen führen in die Irre.

Ein Faktencheck

Auf der Plattform X behauptet der ehemalige SPD-Umweltsenator Fritz Vahrenholt im Mai 2025, das Eis in der Antarktis (Südpol) nehme seit 2021 wieder zu, der Rückgang des Meereises in der Arktis (Nordpol) sei seit zehn Jahren gestoppt.

"Warum erfahren wir solche guten Nachrichten nicht in der Tagesschau?", schrieb er und erreichte damit mehr als 200.000 Views. Seine Kritik führte er auf den Blogs "Tichys Einblick" und "Reitschuster.de" weiter aus.

Behauptung

  • Das Festlandeis in der Antarktis werde seit 2021 wieder mehr, das Meereis in der Arktis werde seit zehn Jahren nicht mehr weniger. Die Aussage eines Klimawissenschaftlers belege: Klimamodelle gerieten immer häufiger in Widerspruch mit der Wirklichkeit.

Bewertung

  • Fehlender Kontext. Fritz Vahrenholt bezieht sich auf zwei wissenschaftliche Texte, die zeigen, dass es je nach Region und Zeitraum Unterschiede beim Eiswachstum und der Eisschmelze am Nord- und Südpol geben kann. Beide Texte stellen jedoch nicht in Frage, dass die Eismasse an beiden Polen insgesamt weniger wird. Der zitierte Wissenschaftler sagt, sein Zitat sei aus dem Zusammenhang gerissen worden.

CORRECTIV.Faktencheck hat zu den Behauptungen von Vahrenholt recherchiert: Er lässt Kontext aus und erzeugt so mit den Studien, die er zitiert, einen falschen Eindruck. Einer der von ihm zitierten Wissenschaftler wirft ihm daher Rosinenpickerei vor.

Auf Rückfragen von CORRECTIV.Faktencheck verwies Vahrenholt auf einen Online-Artikel über die Entwicklungen des antarktischen Eisschildes, äusserte sich inhaltlich aber nicht weiter.

Die Annahmen im X-Beitrag von Vahrenholt sind so pauschal formuliert nicht korrekt. Sowohl das Landeis in der Antarktis, als auch das Meereis in der Arktis haben in den vergangenen Jahrzehnten abgenommen. © X; Screenshot: CORRECTIV.Faktencheck

Vahrenholt bezieht sich auf Studie chinesischer Forscher, wonach Festlandeis der Antarktis wieder zunehme

Welche Behauptungen stellt Vahrenholt in den Artikeln auf?

  • Eine Studie von chinesischen Forschenden aus dem Jahr 2021 zeige, dass das Festlandeis in der Antarktis (Südpol) mehr werde.
  • Eine weitere Veröffentlichung habe gezeigt, dass das Meereis in der Arktis (Nordpol) seit zehn Jahren nicht mehr weniger werde.
  • Klimamodelle könnten laut einem Forscher die Realität nicht mehr hinreichend genau wiedergeben.

Vahrenholt bezieht sich mit seiner ersten Behauptung auf eine Studie von Forschern der chinesischen Tonqji-Universität vom März 2025. Die Studie untersuchte die Massenänderung des antarktischen Eisschildes von April 2002 bis Dezember 2023.

Dafür wertet sie unter anderem Daten der deutsch-amerikanischen Satelliten Grace und Grace-Fo aus. Mit den Ergebnissen erhoffen sich die Forschenden, genauere Schätzungen zum Anstieg des globalen Meeresspiegels geben zu können.

Klimaforscherin: Studie zeigt, dass die Änderung der Eismasse regional verschieden sein kann

In der Studie der chinesischen Forscher heisst es, zwischen den Jahren 2021 und 2023 habe es beim antarktischen Eis einen "rekordverdächtigen Massenzuwachs" gegeben. Doch bedeutet das nun, wie Vahrenholt nahelegt, dass der Klimawandel für das Eis am Südpol nicht so schlimm ist, wie man denken könnte?

Marie Kapsch, Klimaforscherin am Max-Planck-Institut für Meteorologie, ordnet die Studie für auf Anfrage von CORRECTIV.Faktencheck ein. Sie schreibt: "Aus dieser Studie lässt sich nicht pauschal herleiten, dass das Festlandeis in der Antarktis wächst."

Die Forscher hätten sich in ihrer Studie drei Zeiträume angeschaut. Dabei habe sich gezeigt, dass die Veränderung beim Eiswachstum und der Eisschmelze regional sehr verschieden sei. Zwischen 2021 und 2023 sei es in einigen Teilen der Ostantarktis "zu einem geringen Wachstum der Eismassen" gekommen, in der Westantarktis habe es hingegen im selben Zeitraum "einen starken Massenverlust" gegeben.

Dass Teile des Eisschilds in der Ostantarktis zuletzt gewachsen sind, ist laut Kapsch im Rahmen der globalen Erwärmung nicht überraschend. Durch die wärmer werdende Atmosphäre verdunstet mehr Feuchtigkeit über dem Meer, was in manchen Teilen zunächst dazu führt, dass es vermehrt schneit und die Eisschicht auf dem Festland leicht zunehmen kann. "Sofern die Temperaturen gering genug bleiben, um diesen Schnee über den Sommer nicht wieder zu schmelzen, führt dies zu einer Massenzunahme", schreibt Kapsch.

Daten von 2021 bis 2023 zeigen zwar mehr Festlandeis in der Ost-Antarktis, aber dafür sinkt die Eismasse im Westen. Mit Blick auf die gesamte Antarktis kommt die Studie zu dem Ergebnis, dass der antarktische Eisschild zwischen 2021 und 2023 weniger Masse verloren hat als in den Zeiträumen zuvor. Das heisst, der Verlust des Eises verlangsamte sich lediglich.

Die Massenbilanz ist dabei immer noch negativ, wie fortlaufende Messungen der Nasa zeigen: In der Antarktis schmelzen durchschnittlich etwa 136 Milliarden Tonnen Eismasse pro Jahr. Die Behauptung von Vahrenholt, das Festlandeis in der Antarktis nehme zu, ist also mindestens irreführend.

Vahrenholts Behauptungen zum Eis in der Arktis basieren auf einem Vorabdruck

Wie sieht es mit der zweiten Behauptung von Vahrenholt aus? Er behauptet, dass seit über zehn Jahren das arktische Meereis, also das Meereis am Nordpol, nicht mehr weniger werde. Dazu schreibt er in seinem Artikel, Forscher würden für die nächsten fünf bis zehn Jahre eine Pause des Rückgangs erwarten. Darauf aufmerksam gemacht habe "eine kürzlich erschienene Veröffentlichung von Mark England von der Universität Exeter und Lorenzo Polvani von der Columbia Universität in New York".

Meereis ist gefrorenes Meer-, also Salzwasser, das auf den Ozeanen schwimmt. Neben dem Meereis gibt es noch das sogenannte Schelfeis und das Landeis, um das es in der ersten Behauptung ging. Sowohl Schelf- als auch Landeis bestehen aus Süsswasser, schmilzt dieses Eis, führt das zu einer Erhöhung des Meeresspiegels.

Zu der Entstehung von Meereis schrieb Marie Kapsch auf Anfrage von CORRECTIV.Faktencheck: "Besonders an der Meereiskante ist das Eis relativ dünn und somit sehr viel vulnerabler, das heisst äussere Einflüsse (zum Beispiel Wind, Strömungen, Temperaturschwankungen) haben eine stärkere Auswirkung auf die Meereiskonzentration als im Inneren der Meereisfläche, wo sich dickes Eis über mehrere Jahre aufbauen kann."

Arktis-Meereis verändert sich regional unterschiedlich

Im Fall der Arktis spielt die "interne Variabilität" eine grosse Rolle, also die natürlichen Abläufe innerhalb des Klimasystems wie zum Beispiel regional typische Schwankung der Lufttemperatur und damit der Eismasse. Die Autoren der Studie schreiben, ihre Ergebnisse würden darauf hindeuten, die natürliche Variabilität habe zuletzt den vom Menschen verursachten Meereis-Verlust "erheblich ausgeglichen".

Bei der Veröffentlichung handelt es sich um einen Vorabdruck, auch Preprint genannt – eine Veröffentlichung, die noch nicht von anderen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern begutachtet wurde. Die Forschenden schreiben darin, der Rückgang der arktischen Meereis-Decke in den letzten zwei Jahrzehnten habe sich über alle Monate des Jahres hinweg "deutlich verlangsamt". Laut den Forschenden sind solche Perioden trotz steigender Treibhausgasemissionen nicht ungewöhnlich – und würden in vielen Klimamodellen bei Vorhersagen mitbedacht.

Schon im Jahr 2019 hatten die Forscher in einem Artikel berichtet, dass die arktische Meereis-Decke zwischen 1958 und 2017 dramatisch zurückgegangen sei. Damals stellten sie fest, dass der Einfluss der "internen Variabilität" auf den Meereis-Verlust in der Arktis sehr unterschiedlich war: Im Spätsommer in der Ostsibirischen See sei sie für weniger als 10 Prozent des Meereis-Verlustes verantwortlich, dafür aber in der Karasee für mehr als 60 Prozent des Verlustes.

Auf Anfrage schreibt Nina Maass, Klimaforscherin am Alfred-Wegener-Institut, zu der Frage, inwieweit Klimamodelle diese Entwicklungen vorhersagen können: "Natürlich sind die (Klima)modelle nicht perfekt." Dass der Abwärtstrend der Meereisausdehnung stagniere, sei aber nichts Neues.

Das gehe auch aus dem Preprint hervor und sei in dieser Untersuchung von Klimamodellen schon 2015 vorhergesagt worden. Die natürliche Variabilität sei dem menschengemachten Eisverlust überlagert und könne auch mal dafür sorgen, dass die Meereisausdehnung in einzelnen Jahren oder Jahrzehnten wieder zunehme oder relativ konstant bleibe. "Aber das heisst nicht, dass der menschengemachte Klimawandel gestoppt ist oder keine Auswirkungen auf das Eis hat oder die Klimamodelle nicht funktionieren."

Eine Grafik der Online-Wissensplattform Meereisportal zeigt, wie die Eisfläche zwischen 1981 und 2024 in der Arktis zeitweise um Millionen Quadratkilometer geschrumpft ist. Im Jahr 2025 liegt die Meereis-Ausdehnung bisher unterhalb des langjährigen Mittels.

Eismassen an den Polen werden langfristig immer kleiner

Unter anderem immer wärmere Winter tragen zum Schmelzen der Eisdecken bei. Schrumpft die Eisoberfläche, wird weniger Sonnenlicht reflektiert und die Erdoberfläche erwärmt sich noch schneller. Es entsteht ein sogenannter Rückkoppelungsprozess, der sich selbst verstärkt.

Der Copernicus-Bericht des europäischen Klimadienstes von 10. Januar 2025 geht auf die Ausdehnung des Meereises an Süd- und Nordpol ein: Demnach habe die Meereisausdehnung rund um die Antarktis während eines Grossteils des Jahres 2024 historische Tiefstwerte erreicht. In der Arktis sei sie relativ nahe an ihrem Durchschnitt von 1991 bis 2020 gewesen, nach Juni sei sie jedoch deutlich darunter gefallen.

Klimamodelle werden fortlaufend erforscht

Zur dritten und letzten Behauptung von Vahrenholt: Klimamodelle würden die Wirklichkeit nicht mehr beschreiben können und sich in Widersprüche verstricken. Als Beleg für diese Aussage zitiert er den Klimaforscher Jochem Marotzke mit dem Satz: "Die gegenwärtige Klasse von Klimamodellen gerät in zu viele Widersprüche mit der Wirklichkeit."

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Dem Zitat von Marotzke, Direktor und Wissenschaftliches Mitglied am Max-Planck-Institut für Meteorologie, fehlt jedoch Kontext: Der Satz findet sich in einem Artikel der "Welt" von Ende Mai 2025, er stand – etwas anders formuliert – in der Fachzeitschrift "Forschung und Lehre" (Seite 21, kostenpflichtig).

Ein Blick in den Original-Artikel zeigt: Marotzke fordert darin eine kritische Debatte um Klimamodelle. Über die Arktis schrieb er zum Beispiel (Seite 20), der Rückgang des Meereises werde in Klimamodellen mit einigen Ausnahmen unterschätzt. In grossen Teilen der Welt würden sich Modelle in der Frage widersprechen, ob es künftig mehr oder weniger regnen wird.

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Er stellt in dem Artikel jedoch klar, dass sich Risse im wissenschaftlichen Verständnis "nicht bei der Ursache der globalen Erwärmung zeigen, sondern bei ihren konkreten Folgen und ihren regionalen und zeitlichen Ausprägungen" (Seite 20). Klimamodelle hätten zu entscheidenden Nachweisen beigetragen, etwa dass der Mensch die beobachtete globale Erwärmung verursacht (Forscher Klaus Hasselmann) und dass eine erhöhte CO2-Konzentration das Klima erwärmt (Forscher Syukuro Manabe).

Dem Faktenfuchs des BR sagte Marotzke, seine Zitate seien aus dem Zusammenhang gerissen worden und stellte klar: "Vahrenholt & Co picken sich raus, was ihnen passt, und ignorieren geflissentlich die Ergebnisse seriöser Forschung. (...) Alles Humbug."

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Verwendete Quellen