Seit jeher fasziniert die Erforschung des Weltraums die Wissenschaft. In den 1950er- und 60er-Jahren lieferten sich die USA und die Sowjetunion mitten im Kalten Krieg einen Wettlauf ins All. Doch was kaum jemand weiss: Ein längst vergessenes Programm aus der arabischen Welt hatte ebenfalls den Traum, den ersten Mann auf den Mond zu schicken.
Es kennt wohl fast jeder die Geschichte des ersten, sowjetischen Kosmonauten im All – Juri Gagarin erreichte am 12. April 1961 als erste Person den Weltraum. Das Wettrennen um den ersten Menschen auf dem Mond gewannen hingegen die USA. Am 21. Juli 1969 landeten dort Neil Armstrong und Buzz Aldrin.
Aber wussten Sie, dass es in den 60er-Jahren einen weiteren Rivalen um den Wettlauf in den Weltraum gab? Ein kleines Land im Nahen Osten, nur etwa halb so gross wie Hessen, baute ebenfalls Anfang der 60er-Jahre Raketen, um sie ins All zu schicken. Dies ist die unglaubliche, in Vergessenheit geratene Geschichte der Rocket Society aus dem Libanon.
Die Gründung der "Haigazian College Rocket Society"
Die Weltraumfahrt-Vergangenheit der Haigazian-Universität in Beirut ist kaum bekannt. Im November 1960 schloss sich eine Gruppe von Studenten des Haigazian College unter der Leitung von Manoug Manougian – einem Mathematik- und Physiklehrer – zusammen und gründete die Haigazian College Rocket Society (HCRS). Das geht aus einem Interview mit Manoug Manougian hervor, das auf der Webseite der Armenian Evangelical Emmanuel Church veröffentlicht wurde.

Der Schriftsteller Pierre Jarawan hat für seinen kürzlich erschienenen Roman "Frau im Mond" intensiv recherchiert und mit unserer Redaktion gesprochen: "Für die Gruppe war das Raketenbauen ein Hobby aus Interesse an der Wissenschaft. Sie bauten Raketen, die immer grösser und besser wurden, und waren schliesslich so gut, dass sie mit einigen sogar tatsächlich den Weltraum erreichten. Das sorgte für eine riesige Euphorie im Nahen Osten – für den Traum, einen Araber als ersten Mann auf den Mond zu schicken."

Die Wissenschaftler wollten keine militärische Nutzung
Wie HCRS-Gründer Manougian in seinem Interview ausdrücklich betont, ging es ihm und seinen Studenten damals ausschliesslich um wissenschaftliche und nicht um militärische Ziele. Doch die finanziellen Mittel der Studentengruppe waren begrenzt, weshalb sie auf Materialbeschaffung, Treibstoff und Teststrecken des libanesischen Militärs angewiesen war.
Der Raumfahrtexperte Eugen Reichl schätzt die Entwicklungskosten gegenüber unserer Redaktion auf deutlich zu hoch für den Staatshaushalt des Libanons im Jahr 1961 oder 1962 ein.
Wie konnte der Libanon mit so wenigen Mitteln Raketen bauen?
Für die Konstruktion einer Rakete braucht es Reichl zufolge nicht viel: "Schon vor dem Zweiten Weltkrieg wusste man, wie man so etwas baut", sagt er. Zudem seien Feststoffraketen in der Art, wie sie damals im Libanon gebaut wurden, "nichts anderes als Feuerwerksraketen in etwas grösserem Massstab und einer geringfügig wirksameren Pulvermischung". Simple Feststoffraketen seien viel einfacher zu bauen als flüssigkeitsbetriebene Raketen. Die Metallhülse und die nötigen Chemikalien auf Ammoniumbasis, gemischt mit einem Oxidator, könnte man in einem Baumarkt und einer Apotheke kaufen.
Und tatsächlich hat die Gruppe ihre ersten Versuche mit einfachen Mitteln unternommen, wie Manougian in einem Interview mit der BBC verrät: "Ich dachte mir, ich könnte von meinem mageren Gehalt etwas abzweigen und meine Frau davon überzeugen, dass ich davon kaufen kann, was ich für die Experimente brauche." Erste Prototypen bastelte die Gruppe aus Pappe und Rohren. Die testete sie dann auf einem Bauernhof in den Bergen über Beirut.
Überwachten Geheimdienste das Raketenprogramm im Libanon?
Das libanesische Raketenprogramm blieb von der Konkurrenz aus Ost und West nicht unbemerkt. Manougian äusserte in dem BBC-Interview den Verdacht, dass ausländische Agenten aus den USA, der Sowjetunion und anderen arabischen Ländern seine Arbeit überwachten. Pierre Jarawan weiss aus seinen Recherchen: "In den 60er-Jahren war Beirut voller Geheimdienste, der sowjetische, die CIA, MI6, KGB. Ich glaube nicht, dass das Ausland das libanesische Raketenprogramm als ernsthafte Bedrohung gesehen hat, im Sinne von 'Die könnten vor uns auf dem Mond landen.' Es ging eher darum: 'Was planen die mit Raketen im Nahen Osten?'"
"Hier war der winzige Libanon in der Lage, etwas zu tun, was der Rest der arabischen Welt nicht geschafft hatte."
"Hier war der winzige Libanon in der Lage, etwas zu tun, was der Rest der arabischen Welt nicht geschafft hatte", sagte Manougian 2013 gegenüber der BBC, nachdem gerade ein Dokumentarfilm über das Raketenprogramm im Libanon erschienen war. Eugen Reichl zufolge gab es damals lediglich in Israel und in der Türkei Raketenforschung
Französischer Dokumentarfilm über Raketen im Libanon
Der französisch-libanesische Film "The Lebanese Rocket Society" erzählt die Geschichte der Raketenforschung des Libanons nach. Im April 1961 wurde eine einstufige Feststoffrakete gestartet und erreichte eine Höhe von etwa einem Kilometer. Mit weiteren Verbesserungen des Festtreibstoffsystems wurde eine ähnliche Rakete später bis zu zwei Kilometer hochgeschossen. Eugen Reichl meint, diese Versuche sollte man nicht überbewerten: "Mit den damals im Libanon eingesetzten Mitteln und unter der Betrachtung, dass das alles blutige Amateure waren, ist es nicht schlecht."
Mit der Zeit kamen neue Mitglieder hinzu und aus der Haigazian College Rocket Society wurde die Lebanese Rocket Society. 1963 erreichte die Cedar 4 – benannt nach dem libanesischen Nationalsymbol, der Zeder – bereits eine Höhe von 140 Kilometern und gelangte damit in die Nähe der Satelliten der unteren Erdumlaufbahn. "Wir starteten dreistufige Raketen. Sie waren kein Spielzeug mehr. Wir konnten die Thermosphäre erreichen", sagte Manougian gegenüber der BBC. Dieser Rakete wurde sogar eine Briefmarke gewidmet.
Per Definition hat der Libanon den Weltraum erreicht
Ab wann befindet sich eine Rakete im Weltall? Laut amerikanischer Definition muss sie dazu über 50 Meilen fliegen, das wären also 83 Kilometer. Dann gibt es die international anerkannte Definition der Kármán-Linie, benannt nach dem Physiker Theodore von Kármán, die bei 100 Kilometern angesetzt wurde. Wenn man also von Weltall oder Weltraum spricht, meint man damit über 100 Kilometer. Per heutiger Definition hätte also der Libanon das Weltall erreicht.
Aber auch das überzeugt Reichl nicht vollends: "Ich will die Leistung dieser libanesischen Amateurgruppe nicht schmälern, aber man muss berücksichtigen, dass das kurze suborbitale Flüge waren, die sie gemacht haben. Ein Hüpfer sozusagen, schnurgerade hoch und schnurgerade wieder runter. Kein Versuch, einen Orbit zu erreichen. Deswegen ist diese Leistung auch nicht ansatzweise mit dem zu vergleichen, was damals die Sowjetunion, die USA, Frankreich oder Grossbritannien gemacht haben."
Immerhin, so viel gesteht er dem Libanon dann doch zu: "100 Kilometer erreichen nicht viele Amateurgruppen."
Das jähe Ende der Lebanese Rocket Society
Der letzte Start der Lebanon Rocket Society fand im Jahr 1966 statt, die Cedar 8. Danach wurde das Programm eingestellt. Pierre Jarawan nennt zwei mögliche Gründe für das Ende des Programms: "Im Nahen Osten war es nicht so leicht, ein Raketenprojekt zu unterstützen. Die Israelis waren dagegen, dass ihr Nachbarland Raketen baut, die ganz problemlos Israel treffen könnten."
Zudem habe das Militär irgendwann kein Geheimnis mehr daraus gemacht, die Raketen militärisch nutzen zu wollen. "Und da war die Rocket Society strikt dagegen." Er hält es also auch für möglich, dass die Gruppe das Programm aus eigener Motivation aufgegeben hat.
Letzte Erinnerungen
Durch den Bürgerkrieg im Libanon gingen viele Aufzeichnungen und Fotografien von damals verloren. Pierre Jarawan erzählt von Fotografen, die ihre Bilder vernichtet haben, weil sie während des Bürgerkriegs nicht mit Fotos von Raketenprojekten erwischt werden wollten. Zudem verliessen einige Studenten der Society das Land. Viele Libanesen können sich laut Jarawan heute gar nicht mehr vorstellen, "dass Raketen je etwas anderes konnten, als Zerstörung anzurichten".
Der Dokumentarfilm aus dem Jahr 2012 war ein erster Schritt, an das libanesische Raketenprogramm zu erinnern. So spendeten die Filmemacher eine massstabgetreue Nachbildung der Cedar 4 an die Haigazian-Universität, die dort noch auf dem Campus steht.
Einen weiteren Schritt geht Pierre Jarawan mit seinem Roman "Frau im Mond". Auch wenn die Lebensgeschichte des Protagonisten Maroun – angelehnt an Manoug Manougian – fiktiv ist, die geschichtlichen Ereignisse sind es nicht.
"Das Wettrennen hätte der Libanon nicht gewinnen können. Aber wenn sie drangeblieben wären, wer weiss – dann wäre der Libanon heute vielleicht eine Weltraumnation."
"Wir lachen erstmal, wenn wir hören 'Oh, der Libanon hat fast den ersten Mann auf den Mond gebracht', weil wir uns das alles gar nicht mehr vorstellen können. Das Wettrennen hätte der Libanon nicht gewinnen können. Aber wenn sie drangeblieben wären, wer weiss – dann wäre der Libanon heute vielleicht eine Weltraumnation."
Auch der Raumfahrtexperte Eugen Reichl ist der Ansicht, dass die libanesische Truppe weit hätte kommen können, wäre das Programm nicht eingestellt worden: "Einige Raumfahrtnationen wie etwa Indien und Japan haben genauso angefangen wie die Libanesen. Sie haben sich aber nach ihren ersten 100-Kilometer-Schüssen konsequent, wissenschaftlich basiert und mit erheblichem finanziellem Aufwand immer weiter entwickelt. Wäre man im Libanon genauso vorgegangen, dann hätte man in den vergangenen sechseinhalb Jahrzehnten viel erreichen können." Aber so ist das Know-how verloren gegangen.
Für einige wenige immerhin bleibt die Erinnerung an eine fast vergessene, unglaubliche Geschichte.
Über die Gesprächspartner
- Pierre Jarawan ist Autor und freier Fotograf. Er wurde 1985 als Sohn eines libanesischen Vaters und einer deutschen Mutter in Amman, Jordanien, geboren, nachdem seine Eltern den Libanon wegen des Bürgerkriegs verlassen hatten. Im Alter von drei Jahren kam er nach Deutschland.
- Eugen Reichl (1954) ist Betriebswirt, Raumfahrtexperte, Sachbuchautor und Blogger. Er studierte Betriebswirtschaftslehre und arbeitete für Airbus. Dort war er für die Vermarktung von Raketenantrieben zuständig. Neben seiner schriftstellerischen und journalistischen Tätigkeit hält Reichl populärwissenschaftliche Vorträge zum Thema Raumfahrt und arbeitet an den Blogs SciLogs und Der Orion mit.
Verwendete Quellen
- Gespräch mit Pierre Jarawan
- Gespräch mit Eugen Reichl
- Armenian Evangelical Emmanuel Church: "The Rising of a Rocket"
- BBC: "Lebanon’s forgotten space programme"