An dem Ausraster von Antonio Rüdiger im spanischen Pokalfinale vergangene Woche scheiden sich die Geister: Einige fordern den Rauswurf des Innenverteidigers aus der deutschen Nationalmannschaft. Andere verzeihen ihm die Emotionen auf dem Platz. Sportpsychologin Johanna Belz erklärt die besondere Brisanz des Falls Rüdiger und wie Fussballer generell mit ihrer Vorbildfunktion umgehen sollten.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Victoria Kunzmann sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfliessen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Wie emotional Sport sein kann, haben schon viele Sportler vor Antonio Rüdiger gezeigt. Alexander Zverev, der seinen Tennisschläger auf dem Platz zertrümmerte, Jürgen Klinsmann, der in eine Litfasssäule trat, Serena Williams, die bei den US Open gegen den Schiedsrichter wütete. Und nun eben Antonio Rüdiger, der im Copa-del-Rey-Finale gegen den FC Barcelona den Unparteiischen mit Tape bewarf, beschimpfte und mehrere Minuten lang von Mitspielern zurückgehalten werden musste.

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Sein Ausraster bescherte ihm sechs Spiele Sperre, doch die Meinungen über die Konsequenzen gehen weit auseinander. Lothar Matthäus und Dietmar Hamann fordern seinen Rücktritt aus der deutschen Nationalmannschaft, Matthäus schrieb in seiner "Sky"-Kolumne, Rüdiger habe "ein Verhalten gezeigt, das sich absolut nicht gehört und das ich in dieser Art und Weise noch nicht gesehen habe."

Andere, wie sein ehemaliger DFB-Teamkollege Ilkay Gündogan, verteidigten Rüdiger.

Es gibt aber auch Sportler, die sich in emotionalen Momenten besonders vorbildlich verhalten. Jüngstes Beispiel: Bochums Fussballprofi Maximilian Wittek leistete beim Zusammenprall von Heidenheims Keeper Kevin Müller und Bochums Stürmer Philipp Hofmann erste Hilfe und half den Sanitätern beim Tragen.

Vorbilder seien Fussballer schon aufgrund ihrer medialen Präsenz, sagt Johanna Belz, Sportpsychologin an der Sporthochschule in Köln. Entscheidend sei, wie sie mit dieser Öffentlichkeit umgehen.

Warum alle Fussballprofis Vorbilder sind

Millionen Menschen verfolgen jedes Wochenende die Spiele der Fussball-Bundesliga. Allein diese Tatsache mache alle Fussballprofis zu Vorbildern. "Profisportler sind Identifikationsfiguren, weil sie im Rampenlicht stehen", erklärt Johanna Belz im Gespräch mit unserer Redaktion. "Sie werden von Millionen Menschen gesehen, gerade im Fussball, und verkörpern Werte, wie Teamgeist, Leistungsfähigkeit und Disziplin. Das macht sie zu Vorbildern, bewusst oder unbewusst."

Aussuchen können sich Profisportler das nicht: Sie verstehe die Problematik, sagt Belz, "dass man sich für den Sport, aber nicht aktiv dafür entscheidet, Vorbild zu sein." Die Aussenwirkung lasse sich nicht ganz vermeiden. Sei die Öffentlichkeit aber keine Option, dann sollte man darüber nachdenken, sich "aus dem Profibereich zurückzuziehen", sagt Belz.

Vor allem Kinder und Jugendliche würden das Verhalten, das sie beobachten, nachahmen. Dazu gehören zum Beispiel fussballerische Tricks wie Cristiano Ronaldos Freistösse oder Manuel Neuers Torwartspiel. "Diese Vorbilder prägen das Bild der Kinder davon, was richtig und was falsch ist. Wenn diese Vorbilder, die man idealisiert, negativ auffallen, kann das Kinder natürlich verunsichern", sagt Belz. Wichtig seien andere Bezugspersonen, etwa die Eltern, die das Verhalten einordnen.

Der Fall Rüdiger: Wichtig ist, wie der Nationalspieler weiter mit dem Thema umgeht

Sportler, die wie Antonio Rüdiger polarisieren, "werden kontroverser diskutiert – im Positiven, wie im Negativen", beschreibt Belz. "Er hat eine starke Ausstrahlung, er ist auf dem Platz präsent, viele schauen zu ihm auf, manche reiben sich an ihm." Und diese Reibung liegt auch daran, dass der Vorfall im spanischen Pokalfinale nicht Rüdigers erste Provokation ist.

Im Juni 2023 beleidigte er einen Fan der deutschen Nationalmannschaft am Frankfurter Flughafen. Im Champions-League-Viertelfinale in dieser Saison sorgte er mit einer Kopf-ab-Geste gegen den Gegner nach dem Sieg für Aufsehen. "Als Profisportler muss man sich bewusst sein: Was ich auf dem Platz mache, wird gesehen, kommentiert, bewertet", sagt Belz über die Aktionen des 32-jährigen Verteidigers. Das könne bei Unsportlichkeiten problematisch werden.

Am Tag nach seinem aktuellsten Ausraster im Pokalfinale entschuldigte sich Rüdiger öffentlich über die sozialen Netzwerke für sein Verhalten. Er wurde für sechs Spiele gesperrt. "Er wird jetzt dafür Verantwortung übernehmen müssen", sagt Sportpsychologin Belz. "Jetzt wird interessant sein zu sehen, wie er damit umgeht." Ob er zum Beispiel die Strafe annimmt und sein Verhalten reflektiert.

Wie Bundesliga-Profis zu Vorbildern werden – und wie gut sie das machen

Dass sie Vorbilder für Kinder, Jugendliche und Millionen Menschen vor den Bildschirmen sind, würden Fussballer schon früh in ihren Vereinen lernen, sagt Belz. Das fange bei der Ausbildung von Jugendspielern in den Nachwuchsleistungszentren an. Viele Spieler erhalten früh Kommunikations- und Medientrainings, die ihnen dabei helfen, mit öffentlichem Druck besser umzugehen. Ein Mittel könne zum Beispiel sein, die Kommentarfunktion in den sozialen Medien abzuschalten oder keine Kommentare mehr zu lesen, sagt Belz.

Vielen Profisportlern helfe es zudem, sich klarzumachen, wofür sie stehen, "zum Beispiel Teamgeist, Respekt, Toleranz", erklärt die Sportpsychologin. Man könne sich aber auch bewusst davon abgrenzen und für andere Werte stehen oder anecken. "Nicht nur Technik und Taktik sollen im Vordergrund stehen, sondern auch, wie Fussballer mit Öffentlichkeit umgehen und was es bedeutet, Verantwortung zu übernehmen", sagt sie.

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Viele Verbände und Vereine seien bereits sehr gut aufgestellt, haben eine sportpsychologische, psychotherapeutische oder pädagogische Betreuung, die bei solchen Fragen hilft. Vorfälle wie der Wutausbruch Antonio Rüdigers gäbe es insgesamt eher selten auf Fussballplätzen und auch Sportplätzen von Leistungssportlern allgemein.

Die mediale Präsenz biete aber laut Belz auch einen entscheidenden Vorteil: Sie führe dazu, dass das Verhalten diskutiert und reflektiert wird – auch unter Sportlern.

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