In der Bundesliga sammelte niemand mehr Torbeteiligungen als Nicole Anyomi. Dem Bundestrainer scheint das nicht zu reichen. Über Hintergründe und ein gefährliches Spiel mit dem Feuer.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Justin Kraft sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfliessen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Gerade als Eintracht Frankfurt in einer schwierigen Saisonphase die so wichtige Champions-League-Qualifikation zu verspielen drohte, zeigte Nicole Anyomi, wie sehr sie gereift ist. Tauchte sie früher in solchen Situationen oft ab, ging sie diesmal voran. Nach der bitteren 0:3-Niederlage in der Bundesliga gegen den FC Bayern und dem damit zerplatzten Traum vom Titel erzielte die 25-Jährige in den verbliebenen drei Partien vier Tore.

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Ohnehin spielte die flexibel einsetzbare Stürmerin eine überragende Saison. In nur acht Bundesliga-Partien war sie nicht direkt an einem Treffer beteiligt, nur einmal gab es eine Phase an drei Spielen am Stück, in denen sie leer ausging. In 14 Partien hingegen traf sie mindestens einmal oder bereitete ein Tor vor.

Anyomi ist mit 14 Toren und neun Vorlagen die Top-Scorerin der Bundesliga. Für diese 23 Scorerpunkte brauchte sie nur 1.323 Minuten – was wiederum bedeutet, dass sie alle 63 Minuten direkt an einem Tor beteiligt war.

Zum Vergleich: Lea Schüller brauchte in der abgelaufenen Bundesliga-Saison 85 Minuten für einen Scorerpunkt, Selina Cerci kommt auf 74 Minuten, Giovanna Hoffmann auf 105, Laura Freigang auf 97. Das sind die Stürmerinnen, die Christian Wück regelmässig für die deutsche Nationalelf nominiert. Anyomi hingegen? Seit dem 28. Oktober nicht mehr dabei. Damals verlor Deutschland mit 1:2 gegen Australien.

Nicole Anyomi und das DFB-Team: Eine Systemfrage?

Die Frage nach dem Warum beschäftigt ganz Fussball-Deutschland. Als der Bundestrainer im Februar befragt wurde, erklärte er, dass Spielerinnen nominiert wurden, die "aus unserer Sicht in das System sehr gut" hineinpassen würden.

Für einen Nationaltrainer ist es immer ein Dilemma, wenn er mehrere sehr gute Spielerinnen für eine Position zur Verfügung hat. Harte Entscheidungen bleiben da nicht aus. Und tatsächlich hat Wück zumindest einen Punkt: Deutschland agierte unter ihm stets mit einer Sturmspitze. Die taktische Rolle von Schüller und Co. ist dabei recht klar darauf ausgelegt, Bälle festzumachen, oft mit dem Rücken zum Tor zu agieren und den Mitspielerinnen damit Räume zu öffnen.

Auch scheint Wück auf Spielerinnen im Angriff zu setzen, die eine gewisse Kopfballstärke mitbringen. All das sind Fähigkeiten, die bei Anyomi auf ihrer langen Liste an Stärken nicht ganz oben stehen. Bei der SGE spielt sie meist neben Freigang. Ihre Rolle ist es vor allem, die Tiefe mit ihrem Tempo und ihren Dribblings zu attackieren. Dabei profitiert sie von den Wandspielerinnenqualitäten, die Freigang mitbringt.

Wenn sie beim DFB als Neunerin eingesetzt wurde, hing sie überwiegend in der Luft, weil sie ihre Stärken nicht ausreichend einbringen konnte. Anyomi ist keine herausragende Kombinationsspielerin, ihre Passquote liegt im Schnitt bei nur 69 Prozent. Wück hat also durchaus Argumente auf seiner Seite, wenn er die Frankfurterin aussortiert. Nur die Art und Weise ist mindestens diskutabel.

Christian Wück steht in der Kritik

"Es hat zuletzt kein konkreter und direkter Austausch stattgefunden", sagte Anyomi jüngst im Gespräch mit "watson". Das sorgt für Verwirrung – und das nicht nur bei ihr. Auch Felicitas Rauch beschwerte sich jüngst öffentlich darüber, dass der Bundestrainer nicht mit ihr gesprochen habe, bevor er sie ausgebootet hat.

Ihren Instagram-Beitrag likten mit Svenja Huth, Lina Magull, Alexandra Popp und Melanie Leupolz einige ehemalige Nationalspielerinnen – mit Jule Brand aber auch eine aktive. Wück scheint mit dem Feuer zu spielen, zumindest was den kommunikativen Bereich anbelangt.

Aber er spielt auch mit dem Feuer, wenn er freiwillig auf eine der besten Bundesliga-Spielerinnen verzichtet. Pro 90 Minuten führen laut dem Datenportal "FBref" 1,02 ihrer Aktionen zu einem Tor – das ist der fünftbeste Wert der Liga. Sie mag nicht gut in die Rolle zu passen, die Wück auf der Neun vorgesehen hat, aber sie bringt Fähigkeiten mit, die dem Team bei einem grossen Turnier sehr weiterhelfen können.

Anyomi hat ein beeindruckendes Gespür dafür, sich in richtig gute Abschlusspositionen zu bringen. In der Bundesliga kommt sie in der abgelaufenen Saison auf 0,26 Expected Goals pro Abschluss – das ist ein Bestwert in den europäischen Top-Ligen. Sie bringt Tiefe und Tempo ins Spiel, wenn für sie eine Rolle geschaffen wird, in der sie sich wohlfühlt.

DFB-Team: Sollte Wück sein System für Anyomi anpassen?

Seit vielen Monaten ist Anyomi so gut, dass Wück darüber nachdenken sollte, ob er sein System leicht anpasst. Zumal die Leistungen seines Teams insgesamt bisher sehr wechselhaft waren. Aber selbst wenn er auf seiner Meinung beharrt, dass das aktuelle System am besten zum Team passt, wäre es wertvoll, eine Spielerin wie Anyomi auf der Bank zu haben.

Dass sie Jokerqualitäten hat, hat sie ebenfalls oft genug bewiesen. Siebenmal wurde sie bei der Eintracht in der Bundesliga eingewechselt, nur einmal sammelte sie keinen Scorerpunkt. In diesen sieben Einsätzen kommt sie auf drei Assists und fünf Tore.

Wenn der Bundestrainer für eine solche Spielerin keine Verwendung hat, ist Verwunderung angebracht. Anyomi mag nicht in seine Mittelstürmerinnen-Schablone passen. Vielleicht ist dann aber nicht die Frankfurterin das Problem, sondern die Schablone.

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