• Das Ausgleichstor für Borussia Mönchengladbach in der Partie beim VfL Bochum wird annulliert, weil sich beim Abseits die Regelauslegung an einer Stelle geändert hat.
  • Mit der Entscheidung des Unparteiischen sind die Gladbacher jedoch nicht einverstanden.
Eine Analyse
Alex Feuerherdt lebt in Köln und ist dort seit vielen Jahren verantwortlich für die Aus- und Fortbildung der Unparteiischen. Ausserdem wird der 52-Jährige als Schiedsrichter-Beobachter in Spielklassen des DFB eingesetzt und arbeitet für den Verband auch als Schiedsrichter-Coach.

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Es lief die 82. Minute in der Begegnung zwischen dem VfL Bochum und Borussia Mönchengladbach (2:1), da trat der Gladbacher Jonas Hofmann bei einem Eckstoss den Ball hoch in den Strafraum der Hausherren. Sein Mitspieler Marvin Friedrich beförderte die Kugel per Kopf an den Torraum, wo der Bochumer Vasilios Lampropoulos sie mit dem Fuss wieder nach aussen spielte, zurück zu Hofmann. Der schlug den Ball erneut vor den Kasten der Gastgeber, Ramy Bensebaini köpfte ihn ins Tor.

Der Ausgleich zum 2:2? Schiedsrichter Daniel Schlager gab den Treffer zunächst, wurde dann aber von VAR Johann Pfeifer an den Monitor am Spielfeldrand geschickt. Als Schlager aufs Spielfeld zurückkehrte, annullierte er das Tor – aufgrund einer Abseitsstellung von Hofmann im Augenblick des Kopfballs von Friedrich.

Das erstaunte viele, denn der Ball war ja von Lampropoulos, also einem Bochumer, zum Gladbacher Eckstossschützen und Flankengeber gelangt. War das etwa kein "deliberate play", also ein bewusstes, absichtliches, freiwilliges Spielen des Balles durch den Abwehrspieler, das die Abseitsstellung aufhebt?

Die Antwort ist nicht ganz einfach. Klar ist: In der vergangenen Saison wäre dieser Treffer anerkannt worden. Denn da lag ein "deliberate play" schon vor, wenn der Abwehrspieler seinen Fuss oder einen anderen Körperteil aktiv zum bereits gespielten Ball führte und ihn spielte oder auch nur berührte. Also mehr unternahm, als lediglich den Fuss in die Schussbahn zu halten. Ob er das in einer kontrollierten Art und Weise tat oder nicht, war ohne Belang.

Diese Regelung führte dazu, dass höchst umstrittene Tore für rechtens erklärt wurden, etwa im DFB-Pokal-Achtelfinale der Saison 2020/21 zwischen Borussia Dortmund und dem SC Paderborn 07. Da wurde ein Treffer von Erling Haaland trotz der Abseitsstellung des Torschützen beim Abspiel auf ihn anerkannt, weil ein Paderborner Spieler den Ball zwischenzeitlich geringfügig abgefälscht hatte. Das genügte, damit ein "deliberate play" gegeben war.

Die Regelauslegung beim "deliberate play" hat sich geändert

Vor dieser Saison wurde zwar nicht die Regel geändert, aber ihre Auslegung. Das bedeutet: Der Regeltext blieb gleich, seine Interpretation jedoch nicht. Denn kaum jemand konnte nachvollziehen, warum ein Treffer wie der von Haaland oder auch das Siegtor von Kylian Mbappé im Nations-League-Finale 2021 zwischen Frankreich und Spanien regulär sein sollte, bloss weil der Ball von einem Verteidiger unkontrolliert berührt oder gespielt wurde, bevor er zu einem Stürmer im Abseits kam.

Daher gaben erst die Uefa und kurz vor dem Beginn der Bundesliga-Saison auch die Regelhüter vom International Football Association Board (Ifab) gemeinsam mit der Fifa neue Leitlinien zum "deliberate play" heraus. Diese beiden Leitlinien sind nicht grundverschieden, unterscheiden sich aber in einigen Ausführungen. Beiden gemein ist, dass "deliberate" jetzt auch den Aspekt der Kontrolle des Abwehrspielers über Ball und Körper einschliesst, der vorher irrelevant war.

In der Juli-Ausgabe der offiziellen, zweimonatlich erscheinenden Schiedsrichter-Zeitung des DFB wird der zentrale Aspekt der Uefa-Auslegung so erklärt: "Kontrolliert bedeutet, der Abwehrspieler ist unbedrängt, nicht in einem Zweikampf befindlich und spielt den Ball auch nicht in einer Abwehraktion 'in höchster Not'."

Nach der Leitlinie von Ifab und Fifa wiederum ist die Kontrolle gegeben, wenn der Abwehrspieler die Möglichkeit hat, "den Ball einem Mitspieler zuzuspielen oder in Ballbesitz zu gelangen oder [sich] zu befreien (zum Beispiel mit dem Fuss oder dem Kopf)".

Was heisst "Kontrolle"?

Ob ein Spieler den Ball kontrollieren könnte und ihn demnach "absichtlich spielt", sei anhand folgender Kriterien zu beurteilen:

  • "Der Ball legte eine gewisse Distanz zurück, und der Spieler hatte klare Sicht auf den Ball.
  • Der Ball bewegte sich langsam.
  • Der Ball ging in eine zu erwartende Richtung.
  • Der Spieler hatte Zeit, seine Körperbewegungen zu koordinieren (d. h. keine instinktiven Streck-, Sprung- oder sonstigen Bewegungen mit begrenzter Ballberührung/-kontrolle).
  • Ein Ball am Boden ist einfacher zu spielen als ein Ball in der Luft."

Die Aspekte der Bedrängnis, der Verwicklung in einen Zweikampf und der Not kommen in der Ifab/Fifa-Leitlinie – die regeltechnisch für die Verbände massgeblich ist – also nicht vor. Trotzdem lassen sie sich als Kriterien insbesondere für die Antwort auf die Frage verwenden, ob ein Spieler genug Zeit hatte, seine Körperbewegungen zu koordinieren, oder ob das Spielen des Balles nur eingeschränkt oder gar nicht als kontrolliert zu bewerten ist, etwa weil er von einem Gegner bedrängt wurde.

Wichtig ist aber auch: Wenn ein Spieler die Möglichkeit zu einer kontrollierten Aktion hat, dann aber aufgrund eines technischen Fehlers den Ball schlecht spielt, handelt es sich trotzdem um ein "deliberate play", das die Abseitsstellung aufhebt.

Schiedsrichter und DFB erklären die Entscheidung

Schiedsrichter Daniel Schlager sagte nach dem Spiel in Bochum, Lampropoulos habe versucht, den Ball zu klären, aber das habe er nicht kontrolliert getan. "Wenn er das kontrolliert macht, spielt er ihn in Richtung Mittelkreis. Wenn er in Bedrängnis ist, hat er nicht die Zeit und Kontrolle über die Situation. Daher ist es unkontrolliert, und es ist keine neue Abseitsbewertung erforderlich." So habe er es bereits auf dem Feld wahrgenommen.

Sein Assistent an der Seitenlinie hatte aber die Abseitsstellung von Hofmann als solche nicht identifiziert, wie Peter Sippel, der sportliche Leiter der Bundesliga-Referees, in einer Erklärung auf der Website des DFB ausführte. Dadurch kam es zum Eingriff des Video-Assistenten.

Für Sippel war die Annullierung des Gladbacher Tores die richtige Entscheidung. Denn Lampropoulous habe den Ball "nur mittels eines Ausfallschritts beziehungsweise einer Streckbewegung" spielen können.

Wesentlich sei dabei, dass er sich "vor, während und selbst nach dem Kopfball von Gladbach-Spieler Marvin Friedrich noch im Zweikampf mit dem Gladbacher Spieler Nico Elvedi" befunden habe. Deshalb sei vor allem der vierte Punkt in der Ifab/Fifa-Leitlinie nicht gegeben. Es handle sich daher nicht um ein kontrolliertes Spielen, das infolge eines technischen Fehlers schliesslich misslang, "sondern um eine Abwehraktion in Not".

Christoph Kramer widerspricht

Das sahen die Gladbacher völlig anders. Christoph Kramer etwa meinte: "In der Situation war es nicht unkontrolliert, sondern Unvermögen, weil er den Ball klar spielen kann und ihn einfach nicht richtig trifft."

Damit sprach er genau jenen Aspekt an, der für die Bewertung dieser Situation massgeblich ist: War Lampropoulos wirklich so stark unter gegnerischem Druck, dass man von einer fehlenden Kontrolle über Ball und Körper ausgehen musste? Oder hatte er hinreichend Zeit für eine koordinierte Abwehraktion, die dann jedoch nicht zu einer erfolgreichen Klärung führte?

Darüber kann man ausgiebig streiten, für beide Positionen gibt es gute Argumente. Regeltechnisch ist die Bewertung der Situation durch den Schiedsrichter und Peter Sippel auf der Grundlage der gezeigten Fernsehbilder zumindest nachvollziehbar. Fussballerisch aber sicherlich auch die von Kramer.

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Fest steht: Auch mit der neuen Leitlinie zum "deliberate play" gibt es Fälle, in denen eine regeltechnisch richtige oder wenigstens akzeptable Entscheidung für Kopfschütteln und Kritik sorgt. Nun aber nicht mehr, weil ein minimales Abfälschen des Balles eine Abseitsstellung aufheben kann – sondern weil es selbst ein deutliches Spielen des Balles bisweilen gerade nicht tut.

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