Anfield und Jürgen Klopp werden zum Kryptonit für Pep Guardiolas Manchester City. Der Sieg im Spitzenspiel ist mehr wert als "nur" drei Punkte: Er ist eine frühe Vorentscheidung im Titelrennen und womöglich das Signal zur Zeitenwende in der Premier League.

Mehr Fussball-News finden Sie hier

Was bleibt hängen vom derzeit wohl besten Fussball, den die Welt zu bieten hat? Die Erinnerung an das schier unglaubliche Tempo, das beide Mannschaften vorlegten? Die klinische Präzision, mit der Spitzenreiter Liverpool derzeit Spiele entscheidet? Pep Guardiolas Sarkasmus, seine wirren Gesten, das bitterliche Flehen?

Der FC Liverpool und Manchester City packten die spektakuläre Welt der Premier League einmal mehr in 90 Minuten Fussball, von dem die Bundesliga nicht mal träumen kann. Das Spitzenspiel in England setzte andere Massstäbe - die man weder in Deutschland noch in Italien, Spanien oder Frankreich bewundern kann. Wenn Liverpool und ManCity derzeit aufeinandertreffen, zeigen die beiden eine eigene Sportart.

Und wenn man sich dann noch die Tabellenkonstellation vor der Partie ins Gedächtnis ruft, Liverpools fast makellose Bilanz nach elf Spieltagen (31 Punkte), die bisher etwas zerzauste Saison der Citizens (25 Punkte) und die Dominanz, mit der das Duo in der letzten Saison die Premier League zu einer Zweiklassengesellschaft machten, dann wird klar: Ein Sieg der Reds dürfte mehr wert sein als nur drei weitere Punkte.

Ein Sieg käme gleich mit einer Vorentscheidung im Titelrennen - nach gerade einmal einem knappen Drittel der Saison.

Liverpool hat auch gegen City das Spielglück

In den letzten grossen Duellen dieser Klubs waren es Zentimeterentscheidungen, die den Unterschied ausmachten. In der letzten Saison löffelte John Stones einen Ball von der Linie, es fehlten drei, vielleicht vier Zentimeter und der Ball hätte die Linie überschritten.

City siegte zu Hause mit 2:1, es war letztlich der eine entscheidende Sieg mehr. Im Community Shield, dem Match zwischen englischem Meister und FA-Cup-Sieger, war es zu Beginn der aktuellen Spielzeit Kyle Walker, dem Ähnliches gelang. City siegte nach Elfmeterschiessen.

Am Sonntagabend war der Spielort ein anderer. Es war die Anfield Road, die für City und Pep Guardiola anmuten muss wie eine uneinnehmbare Festung. Mit einem Burgherrn, der Guardiola so oft besiegt hat wie kein anderer Trainer.

Jürgen Klopp und seine Mannschaft drehten den Spiess um, diesmal gehörten die vielen engen Entscheidungen ausnahmslos den Reds. Unmittelbar vor dem frühen 1:0 reklamierte City auf Handspiel im Liverpooler Strafraum, der Video-Assistent schritt aber nicht ein. Stattdessen nagelte Fabinho den Ball im direkten Gegenzug in die Maschen.

Beim zweiten Treffer von Mo Salah hätte man auch auf eine Abseitsstellung des Torschützen entscheiden können. Schiedsrichter Michael Oliver entschied jedoch: Tor.

Liverpools Aussenverteidiger als Markenzeichen

Es waren die ersten beiden Torschüsse der Gastgeber überhaupt - und beide waren drin. Diese Eiseskälte im Abschluss ist einzigartig in der Premier League und war der grosse Unterschied zwischen beiden Mannschaften.

Liverpool sezierte Guardiolas Mannschaft einige Male wie auf dem Reissbrett, Salahs Treffer war in der Entstehung nicht nur eines der schönsten Tore der Saison, sondern verdeutlichte auch einen Trend, bei dem Guardiola hinterherhinkt: Der Angriff wurde initiiert von Liverpools Aussenverteidigern.

Trent Alexander-Arnold, der Junge aus Liverpool, öffnete das Spielfeld mit einem Diagonalpass auf Andrew Robertson, sein Pendant auf der linken Seite. Der wiederum feuerte eine perfekte Flanke in die Mitte, die Salah nur noch einnicken musste.

Liverpool hat diese beiden Spieler entwickelt. TAA stammt aus der eigenen Jugend, Robertson kam vor zwei Jahren vom kleinen Hull City. Mittlerweile gehören sie zu den besten Aussenverteidigern der Welt - weil sie unter Klopp Spielzeit und Förderung erfahren und der Trainer damit etwas schafft, das über eine oder zwei Saisons hinausgehen wird.

Klopp bastelt sich zwei Flügelspieler zurecht, die mit ihren Vorstössen nicht nur eine neue Farbe ins Offensivspiel bringen, sondern auch das Zeug für echte Ikonen des Klubs mitbringen: Robertson ist 25, Alexander-Arnaold sogar erst 21 Jahre jung.

Liverpool hat wenig Verletzte

Klopp hat die Probleme in seiner Mannschaft nicht nur durch kostspielige Spielertransfers behoben, er hat sich selbst um konkurrenzfähigen Nachwuchs gekümmert. Das ist ein Unterschied zu Guardiola bei ManCity, der in der Regel auf gestandene Spieler setzt.

Und der, wenn zwei, drei oder vier wichtige Spieler ausfallen, dann trotz des Luxuskaders nicht adäquat nachlegen kann. An der Anfield Road zeigte sich zum wiederholten Mal in dieser Saison, dass Citys Statik wackelt, wenn gerade in der Defensive Spieler nicht spielen können.

Klopp und die Reds gehen damit besser um. Sie haben zudem weniger verletzte Spieler - und, nicht nur gegen City, auch das nötige Spielglück. Schon ein paar Mal siegte Liverpool quasi mit der letzten Sekunde einer Partie noch, gegen Manchester hätten mit etwas Pech sogar zwei Elfmeter gegen Klopps Mannschaft ausgesprochen werden können.

Und wer weiss was passiert wäre, hätte Manchester sechs Minuten vor dem Ende nach Alexander-Arnolds zweitem vermeintlichen Handspiel auf 2:3 verkürzt? Liverpool war zu diesem Zeitpunkt sichtlich müde und erweist sich - anders als letzte Saison - nicht eben sehr stabil in der Defensive. So reichte es zum 3:1, das Guadiola nach der Partie mit dem ihm eigenen Zynismus in Richtung Unparteiische kommentierte.

Zeitenwende an der Spitze?

Liverpool darf 30 Jahre nach der letzten Meisterschaft mehr denn je von der Erlösung träumen. Der Premier-League-Titel ist die grosse Sehnsucht der Fans, noch wichtiger als die Champions League.

Jetzt stehen die Chancen so gut wie noch nie. Zwar hatte Liverpool in der letzten Saison schon zehn Punkte Vorsprung, verlor dann aber kurz darauf das Spitzenspiel im Ethihad zu Manchester. Jetzt sind es neun Punkte Vorsprung, und die erste Partie gegen Manchester ist bereits gespielt.

Komfortabler lagen die Reds im Vergleich zum grössten Rivalen also noch nicht vorne, und ihre Konstanz in der Liga ist sensationell: In den letzten anderthalb Jahren hat Liverpool exakt ein einziges Match verloren: beim 1:2 gegen City.

Natürlich wiegelt Klopp noch ab, sprach nach der Partie auf der Pressekonferenz davon, "nicht im November, sondern im Mai Erster sein zu sollen". Aber nicht nur Jose Mourinho, der für den TV-Sender "Sky" als Experte tätig ist, spricht den Fans wohl aus der Seele: "Meiner Meinung nach ist es entschieden, es sei denn, es passiert etwas Dramatisches in Sachen Verletzungen."

Es riecht ein bisschen nach Zeitenwende in England. Die Dominanz der Skyblues bröckelt, Liverpool zieht momentan in grossen Schritten vorbei. Die Entwicklungen der beiden besten Mannschaften sind gegenläufig, und wohl nur ein mittelschwerer Leistungseinbruch oder eine regelrechte Epidemie kann die Reds noch stoppen.

Die Saison ist zwar noch lang - derzeit deutet aber nichts darauf hin, dass Klopps Liverpool noch einknicken könnte.

JTI zertifiziert JTI zertifiziert

"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.