Florian Lipowitz sorgt bei der Tour de France für jede Menge Furore. Auch die deutschen Fussball-Frauen sorgten für Euphorie. Doch oft flacht das Interesse so schnell ab, wie es aufgekommen ist. Wird in Deutschland viel zu schnell gehypt? Wir haben mit einem Experten darüber gesprochen.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Andreas Reiners sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfliessen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Haben Sie vor diesem Sommer den Namen Florian Lipowitz schon mal gehört? Als Radsport-Fan ganz sicher, als normaler Sport-Konsument wahrscheinlich nur am Rande, wenn überhaupt. Doch dank der Tour de France kommt man an dem 24-Jährigen im Moment kaum vorbei – der Shootingstar ist in aller Munde. Der Applaus ist laut, die Schlagzeilen prägnant: "Sensation", "Wahnsinn", "der neue Jan Ullrich". Lipowitz triggert mit seinen Leistungen einen Neuzeit-Mechanismus: Seine Auftritte erzeugen einen regelrechten Hype.

Doch zu diesem Mechanismus gehört es oft auch, dass der Jubel so schnell verklingt, wie er aufgekommen ist. Das Interesse sinkt nach dem Event massiv und damit auch die Aufmerksamkeit und die Zuschauerzahlen. Beispiele dafür gibt es viele.

Als ob man einen Stecker ziehen würde

Die 3x3-Basketballerinnen sind nach Gold bei Olympia 2024 aus dem Blickfeld verschwunden, die Rhythmische Sportgymnastin Darja Varfolomeev ebenso. Selbst der Frauenfussball wird sich nach der zurückliegenden EM womöglich rasch im Liga-Alltag mit einem deutlich geringeren Zuspruch wiederfinden. Als ob man einen Stecker ziehen würde. Doch warum ist das so?

"Das ist ein Phänomen, das man ein Stück weit an der massenhaften Verbreitung des Sports festmachen kann", sagt Fanforscher Dr. Harald Lange im Gespräch mit unserer Redaktion. Nicht nur bei der Tour de France, sondern gerade bei Massensportarten wie Fussball oder Veranstaltungen wie den Olympischen Spielen gehe es vielen vor allem um eines: Unterhaltung. "Da entsteht ein typisches Event-Fan-Verhalten. Bei einem Erfolg wird alles sofort überhöht, gefeiert, gehypt, aber sobald der Misserfolg kommt oder das Event vorbei ist, wenden sich viele ab und schenken dem Ganzen deutlich weniger Aufmerksamkeit."

Was auf den ersten Blick oberflächlich wirkt, folgt einem simplen, aber funktionierenden Prinzip: Die Identifikation mit den Siegern, mit den Helden, im Idealfall noch garniert mit einer Hintergrundgeschichte, die berührt oder begeistert oder sogar beides kann. "Gerade im deutschen Sportpublikum läuft vieles über ein einziges Prinzip: Erfolg", sagt Lange. Sobald ein Sportler oder eine Mannschaft performt, feiert das Publikum die Protagonisten und auch sich selbst.

Sportkonsum im TikTok-Stil

Der Sportkonsum ist dabei allerdings extrem schnelllebig und ein Spiegelbild der heutigen Gesellschaft. Der Sport selbst rückt in den Hintergrund, denn wichtiger ist das Drumherum: das Event, die Party und die Geschichten im TikTok-Format. Denn oft geht es in erster Linie um höher, schneller, weiter, verbunden mit einer kürzeren Aufmerksamkeitsbereitschaft. Hier ein Highlight-Clip, dort ein Aufreger, und dann wird weiter geswiped. Und die mediale Berichterstattung ist daher oftmals genauso schnelllebig wie der Sport selbst.

Besonders deutlich wird das an der Tour de France. Seit in Lipowitz ein Deutscher vorne mitfährt, steht er im medialen Fokus. "Viele wissen nicht mal, woher der Fahrer kommt oder wie viele Jahre er trainiert hat. Man kriegt das vielleicht nebenbei mit, aber wirklich interessieren tut es die wenigsten", sagt Lange.

Es gehe vor allem um die Story, nicht so sehr um den Sport, betont der Experte: "Dann wird sofort eine Heldengeschichte erzählt, doch ob es wirklich eine ist, spielt dabei kaum eine Rolle". Liefern die Protagonisten dann aber nicht mehr oder nicht konstant genug, rücken sie schnell wieder in die zweite Reihe. "Das ist auch nachvollziehbar. Durch die massive Ausweitung des Sportinteresses zieht man zwangsläufig weniger fachkundiges Publikum an, dafür aber mehr Menschen, die vor allem das Spektakel suchen. Und genau das bekommen sie", sagt Lange. Das beobachtet man inzwischen auch vor Ort durch eine immer grössere Eventisierung, denn inzwischen sind auch Fussballspiele von A bis Z durchinszeniert. "Das ist extrem oberflächlich. Aber genau darin liegt die Funktion solcher Megaevents", sagt Lange.

Kurzzeit-Helden und schnelles Vergessen

Der Experte vergleicht das Massenpublikum mit Kinobesuchern. Wer ein Megaevent verfolge, sehe einen Fussballer, einen Radfahrer oder einen Sprinter über zwei Stunden hinweg, erklärt Lange: "Und wenn er gewinnt, ist er in dem Moment ein Held, aber eben nur wie in einem Kinofilm: emotional stark, aber ohne Tiefe". Und wenn dann der Hauptdarsteller zufällig aus dem eigenen Land kommt, macht es das natürlich umso einfacher, sich zu identifizieren und für den Moment zu begeistern.

Früher war das tatsächlich anders, denn was heute oft ein dramaturgisches Sofort-Erlebnis ist, war damals eine echte Heldenreise. Tennis-Legende Boris Becker hat man über Jahre begleitet, auch Fussball-Grössen wie Lothar Matthäus, selbst gefallene Helden wie Radsport-Star Jan Ullrich. Solche Heldenfiguren haben sich ihren Status über Jahre aufgebaut. Dafür braucht es aber auch ein Publikum, das diese Entwicklung miterlebt und zu würdigen weiss.

"Die Zuschauer von damals waren stärker an fachlicher Tiefe interessiert. Der Blick auf die Entstehung eines Helden, auf die Entwicklung, die Genese war wesentlich ausgeprägter", sagt Lange, doch heute benutze man den Begriff "Held" sehr schnell. Oft zu schnell, denn "dieser Begriff unterliegt einer Inflation. Und genau deshalb wundert es auch niemanden mehr, dass Heldentum binnen Tagen verpufft", sagt Lange. Denn ohne ein langfristiges Mitgehen bleibt vom sportlichen Helden nur ein kurzer Moment der Begeisterung, so flüchtig wie ein guter Kinoabend.

Die echten Fans? "Nice to have"

Wird also in Deutschland zu schnell gehypt? "Wenn ich sage: zu schnell oder zu wenig, dann setze ich ja voraus, dass es dafür irgendeine objektive Norm gibt, und die gibt es in diesem Kontext nicht", erklärt der Experte. Die Antwort ist daher klar: Nicht zu schnell, sondern genauso schnell, wie es der Zuschauer "verlangt". Der moderne Sportkonsum lebt vom Moment. Von der Feier und vom Gefühl, Teil von etwas zu sein. Von der Kurzlebigkeit und damit leider auch von einem Stück Austauschbarkeit.

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Denn natürlich geht es am Ende auch um Geld. Und das bringt nun mal das breite Publikum mit. "Diese Hardcore-Fans sind 'nice to have'. Sie bringen Atmosphäre, vielleicht auch Tiefe, aber wirtschaftlich kommt man auch gut ohne sie klar, solange die Masse zahlt", sagt Lange. Und diese Fans müssen austauschbar sein, damit sie nahtlos von einem Event zum nächsten springen. "Damit sie dort wieder zahlen, neue Abos buchen, sich wieder begeistern lassen", sagt Lange.

Bis zur nächsten Tour

Ein deutsches Phänomen sei das nicht, "das beobachtet man auch im Ausland", betont der Experte. Es ist aber auch keines, das sich wieder zurückdrehen lässt, weiss Lange: "Wir sprechen hier von einem globalen Phänomen. Und durch die zunehmende Globalisierung der Sportmärkte wird sich das noch verstärken." Deshalb wird sich das Interesse an Florian Lipowitz ab Montag auch wieder auf ein Normalmass abkühlen. Doch ihn kennen jetzt deutlich mehr Sportfans als vorher. Für die nächste Tour de France, denn die kommt bestimmt.

Über den Gesprächspartner:

  • Prof. Dr. Harald Lange ist seit 2009 Professor für Sportwissenschaft an der Universität Würzburg, Gründer des Instituts für Fankultur e.V. und Dozent an der Trainerakademie des DOSB in Köln. Zuvor war er unter anderem Professor für Sportpädagogik an einer Pädagogischen Hochschule (2002-2009) und Gastprofessor an der Universität Wien (2008-2009). Lange hat über 3000 wissenschaftliche Arbeiten publiziert – davon mehr als 50 Bücher und Sammelwerke.