Leo Neugebauer ist der neue deutsche Leichtathletik-Held. Kann er die zuletzt kriselnde Sportart retten? Was muss er jetzt tun und was sollte er vermeiden? Wir haben mit Frank Busemann darüber gesprochen.
Ist Zehnkampf-Weltmeister
Doch welches Potenzial hat Neugebauer, sportlich und menschlich? Welche Fehler sollte er vermeiden? Und wie kommt es, dass er bei der zurückliegenden WM sogar Ex-Zehnkämpfer
Frank Busemann, kann Leo Neugebauer nach dem WM-Gold auch die deutsche Leichtathletik retten?
Frank Busemann: Jede Sportart braucht Lichtgestalten. Und die müssen mit Leistung und mit Persönlichkeit überzeugen. Beides bringt er mit. Deswegen hat er die Kraft, die Leichtathletik über ihre eigenen Grenzen hinaus attraktiv zu machen. Retten allerdings? Das ist schwierig.
Warum?
Weil es eben keine One-Man-Show ist. Die Leichtathletik ist vielschichtig, vielfältig. Retten würde ja bedeuten, dass plötzlich eine halbe Million kleiner Leo-Neugebauers zu Mama und Papa gehen und sagen: "Ich will Leichtathletik machen!" Und dass aus dieser Masse dann eine Generation neuer Leistungsträger entsteht. Diese Bürde darf man ihm nicht auflasten.
Welche Rolle kann er dann im Bestreben, die deutsche Leichtathletik zu verbessern, spielen?
Er muss er selbst bleiben. Sich treu bleiben, Leistung zeigen, Sympathieträger sein. Authentizität ist das A und O. Das Allerwichtigste. Die Leute müssen mitfiebern, sie müssen mitgehen, sie müssen Interesse an ihm haben: an seinen Leistungen, an seinen Geschichten. Das Beeindruckende ist: Er setzt diesen Weg unbeirrt fort. Ehrlich gesagt hätte ich ihm kaum zugetraut, dass er dieses Jahr noch einmal einen draufsetzen kann. Aber genau das hat er getan. Das zeigt seine Klasse.
"Das macht etwas mit einem Athleten"
Warum hat Sie das überrascht?
Weil es unfassbar schwer ist. In der College-Welt Meister zu werden ist gross. Aber Olympia ist grösser. Wenn ich plötzlich bei Olympischen Spielen auftauche und dem deutschen Publikum bekannt werde, verändert das alles. Paris hat ihn einem breiten Publikum nahegebracht. Und plötzlich ist er kein Nobody mehr. Er versucht, so viel wie möglich aus seiner gewohnten College-Struktur zu bewahren – das Training, den Trainer, die Abläufe. Aber die Situation ist eben eine andere. Wenn er jetzt irgendwo mit fast 9000 Punkten aufläuft, erwarten alle, dass er wieder in diesem Bereich landet und gewinnt. Das macht etwas mit einem Athleten. Auch wenn man das nicht wahrhaben will, tief im Inneren ist das eine riesige Herausforderung.
Was genau macht das mit einem Sportler? Ist es der Druck, der sich einschleicht?
Ja. Es ist in erster Linie der Druck, den man sich selbst macht. Weil man denkt: "Das muss jetzt immer so weitergehen. Medaille, Medaille, Medaille." Der Druck von aussen ist ohnehin da, aber entscheidend ist, wie viel Druck ich mir selbst auferlege. Und auch wenn er entspannt wirkt: Reden und Handeln sind oft zwei verschiedene Dinge. Budapest hat das gezeigt. Diese WM war die grösste Lehrstunde seiner Karriere.
Inwiefern?
Da stand er am zweiten Tag da, als hätte er Zement an den Füssen. Diese Erfahrung musste er machen. Man kann sich noch so oft sagen: "Ich lege mich ins Bett, morgen geht’s genauso weiter wie heute." Aber das Unterbewusstsein spielt nicht mit. Vernünftig wäre es, einfach so weiterzumachen, aber so einfach ist das nicht.
Woran liegt das?
Es ploppt einfach immer wieder hoch. Und genau deshalb sind Erfahrungen so wichtig. Gerade im Zehnkampf ist es extrem schwer, zwei Tage auf höchstem Niveau durchzugehen. Weil es immer Disziplinen gibt, die nicht so laufen, wie man will. In diesem Moment muss man umschalten: abhaken, weitermachen, den Fokus sofort auf die nächste Disziplin richten. Aber im Unterbewusstsein rumort es weiter: "Warum habe ich die Hürden verkackt?". Und genau das sind die Herausforderungen, die auf diesem Niveau ständig lauern.
Neugebauer "körperlich in einer ganz anderen Liga"
Was zeichnet Neugebauer aus sportlicher Sicht aus?
Er ist körperlich in einer ganz anderen Liga. Wenn man ihn sieht, dann merkt man: Er ist noch weit weg vom Perfekten und macht trotzdem fast 9000 Punkte. Das zeigt, wie viel Potenzial da noch schlummert. Sein Stabhochsprung ist eigentlich furchtbar anzuschauen, technisch unsauber, und trotzdem geht er bei seiner Bestleistung auf 5,30 Meter. Beim Weitsprung landet er mit einer Art Arschbombe in der Grube und springt acht Meter. Oder das Beispiel Speerwurf: Da dachte ich in Tokio, "Na ja, wenn man nicht Speerwerfen kann, lernt man es nicht mehr wirklich – lass ihn jetzt 60 Meter werfen, das wär’s." Und dann geht er raus und wirft knapp 65. Das sind alles Dinge, die zeigen: Der ist noch lange nicht fertig. Er ist kurz davor, eine Lichtgestalt zu werden.
Dazu gehört immer auch die menschliche Komponente. Was macht ihn in der Hinsicht besonders?
Es war nur eine Kleinigkeit, aber sie hat mich sehr beeindruckt. Vor der WM trafen wir uns, und wir fragten uns beide gleichzeitig: "Wie geht’s dir?" Ich meinte dann: "Ach, bei mir egal, ich bin ein alter Mann, aber du musst fit sein." Und er schaut mich ernst und voller Wärme an und sagt: "Nein, es muss dir auch gut gehen. Das ist wichtig." Das war ein Moment, der mich echt berührt hat. Da steht ein Sportler kurz vor der WM, ist komplett im Tunnel, ordnet alles seiner Leistung unter, und trotzdem interessiert er sich ehrlich für sein Gegenüber. Das zeigt, was für ein Mensch er ist.
Und ist das diese positive Ausstrahlung, die ihn für ein breites Publikum so interessant macht?
Absolut. Es ist einfach schön, wenn man sich mit jemandem freuen kann, den man sympathisch findet. Es gibt Sportler, die sind eher unnahbare Stinkstiefel. Die respektiert man, die bewundert man für ihre Leistung, aber man fiebert nicht wirklich mit. Bei Leo ist das anders: Seine warme Art macht es leicht, sich ehrlich mit ihm zu freuen. Und das ist in der Leichtathletik entscheidend.
Im Fussball identifiziert man sich mit einem Verein, da spielt die einzelne Figur eine kleinere Rolle. In der Leichtathletik stehen dagegen einzelne Typen im Fokus. Und mit denen muss man sich identifizieren können. Das ist schwieriger. Umso wichtiger ist es, dass Leo genau diese positive Ausstrahlung hat.
Busemann verrät: Das ist bei Neugebauer ein Hemmnis
Neugebauer lebt und trainiert in den USA. Kann das hinderlich sein, in Deutschland die ganz grosse Nummer zu werden?
Natürlich ist das ein Hemmnis. Als deutscher Athlet im Ausland zu leben bedeutet: Er ist hier nicht ständig präsent, nicht greifbar. Interviews laufen am Telefon, persönliche Treffen sind selten, man sieht ihn weniger im deutschen Fernsehen. Das wirkt sich aus. Er hat zwar eine enorme Reichweite über Social Media, und das ist die Währung der Zukunft. Aber es ist eine Tatsache, dass Athleten, die im Ausland ansässig sind, in Deutschland manchmal nicht so stark gebucht werden. Diese räumliche Distanz spielt da eine Rolle. Andererseits: Die Leute kennen ihn hier gar nicht anders. Für viele ist er schlicht "der Ami".
Aber aus sportlicher Sicht könnte er mit dem Karriereweg über das College ein Vorbild für andere deutsche Athleten sein?!
Klar, andere gehen diesen Weg bereits, und das erfolgreich. Aber das muss zum Athleten passen. Ich wurde nach dem Abitur auch gefragt, ob ich in die USA gehen will. Ich habe mich dagegen entschieden, weil ich nicht geglaubt habe, dass mein Körper dieses System verkraftet. Man muss es durchstehen können. Die Entscheidung ist individuell und auch eine Frage von Glück: Passt der Trainer zum Athleten? Passt der Athlet zum Trainer? Nicht immer fügt sich das.
Was raten Sie Neugebauer für die kommenden Jahre?
Genau so weitermachen. Sich selbst treu bleiben. Auf sich selbst hören. Denn wir, die aus der Ferne Kommentare abgeben, wissen nichts darüber, was in seinem Leben wichtig ist, was ihn glücklich oder traurig macht. Er muss seinen Weg beibehalten, und der ist bislang extrem leistungsfördernd. Natürlich können sich die Rahmenbedingungen ändern. Vielleicht ist das System in den USA irgendwann nicht mehr praktikabel. Vielleicht zieht es ihn zurück nach Deutschland. Das sind kleine Stellschrauben, aber im Leistungssport haben sie oft eine exponentielle Wirkung. Ein bisschen Sand im Getriebe reicht, und plötzlich läuft es nicht mehr.
Welche Fehler muss er unbedingt vermeiden?
Böse gesagt: Zu viel Tingeln. Von einem Werbevertrag zum nächsten, in jede Fernsehshow. Klar, das ist verlockend, denn auf einmal wird man gefeiert, verdient gutes Geld. Aber man darf das Training nicht vergessen. Er ist Sportler, kein Showstar. Das ist der schmale Grat: Wenn ein Sponsor sagt, "Ich geb dir eine halbe Million, aber dafür will ich dich 20 Mal in Deutschland sehen", dann heisst das auch: 60 Tage unterwegs. Und irgendwann bist du mehr auf Achse als im Training. Dann bist du zwar präsent, aber keine Medaillengarantie mehr.
Und doch trauen Sie ihm zu, das richtig zu steuern?
Ja, absolut. Das sind Profis. Ein Niklas Kaul weiss, wie der Hase läuft. Ein Leo Neugebauer auch. Die wissen genau, was ihnen guttut, wie sie ihren Körper belasten können. Deshalb mache ich mir keine grossen Sorgen, denn sonst wären sie da oben gar nicht angekommen.
"9000 Punkte sind das nächste grosse Ziel"
Was darf man sportlich noch von ihm erwarten?
Die Range von 25 bis 30 Jahren ist im Zehnkampf optimal. Da ist man mental erwachsen genug, um Rückschläge wegzustecken. Körperlich ist man noch auf dem Höhepunkt. Für Leo heisst das: Die 9000 Punkte sind das nächste grosse Ziel. Das ist die Marke, die im Zehnkampf einen elitären Kreis definiert. Weltmeister ist er schon. Was fehlt, ist Olympiagold. Das ist die Krönung. Silber in Paris war stark, aber er selbst sagt: Da habe ich noch eine Rechnung offen.
Trauen Sie ihm auch zu, dass er dann auch die nächsten fünf Jahre den Zehnkampf mit dominiert?
Empfehlungen der Redaktion
Mitdominiert auf jeden Fall. Aber man muss sehen: Die internationale Zehnkampf-Szene ist brutal stark besetzt. Für den Fan ist das grossartig, für die Athleten natürlich beängstigend. Da reicht es nicht mehr, mit 8500 Punkten eine Medaille abzugreifen. Heute stehen da Athleten mit 8700, 8800 oder gar 8900 Punkten. Wenn einer ausfällt, kommt sofort der nächste, der genauso hoch punktet. Das Niveau ist enorm gestiegen.
Über den Gesprächspartner:
- Frank Busemann hat als Zehnkämpfer 1996 in Atlanta Silber geholt, ein Jahr später bei der WM in Athen Bronze. Im Sommer 2003 trat er zurück. Heute ist er unter anderem als TV-Experte für die ARD tätig, aber auch als Redner.