Es ist zum Verzweifeln: Die Zahl der Handelfmeter steigt dramatisch - doch die Handregel ist nur noch Auslegungssache, wie die BVB-Pleite in Paris zeigt.

Pit Gottschalk
Eine Kolumne
Diese Kolumne stellt die Sicht von Pit Gottschalk dar. Informieren Sie sich, wie unsere Redaktion mit Meinungen in Texten umgeht.

Voriges Wochenende setzte Mats Hummels einen Hilferuf ins Netz. "Nach den beiden Sonntagsspielen heute", schrieb der BVB-Verteidiger beim Twitter-Nachfolger X, "muss man vielleicht mal überdenken, ob eine Berührung mit der Hand unbedingt auch ein Handspiel sein muss. Für mich sind das beide keine Situationen, die mit Elfmeter bestraft werden dürfen."

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Zwei Tage später holt ihn das Thema in der Champions League ein: Sein Kollege Niklas Süle rutscht zu Boden, beim Fallen will er sich mit einer Hand auf dem Rasen abstützen, als der Torschuss gegen seinen Arm knallt und der Videobeweis letzte Zweifel klärt - das war der Pfiff zum Mbappé-Elfmeter und Rückstand bei PSG (am Ende 0:2). Aber war das wirklich Hand?

BVB-Berater Matthias Sammer rastete am Amazon-Mikrofon aus und sprach von einer Fehlentscheidung mit fatalen Folgen: "Der Elfmeterpfiff und das damit zusammenhängende 1:0 ist spielentscheidend und beeinflusst den Ausgang des Spiels.“ Denn, so Sammer: "Das war keine Vielleicht- oder Kann-Situation – das ist eine totale Fehlentscheidung!“

Die Regeln sagen: "Finger weg!"

"Nicht jede Ballberührung eines Spielers mit der Hand bzw. dem Arm gilt im Fussball als Handspiel", schreibt die Deutsche Fussball-Liga (DFL) auf ihrer Website und braucht die Länge eines halben Romans, um zu erklären, wann ein Handspiel strafwürdig ist und wann nicht. Die Ausführungen sind mit einer lustigen Überschrift betitelt, die für das ganze Thema gilt: "Finger weg!"

Die aktuelle Regel sagt:

  • Ein Spieler berührt den Ball absichtlich mit der Hand oder dem Arm (zum Beispiel durch eine Bewegung der Hand oder des Arms zum Ball hin).
  • Ein Spieler berührt den Ball mit der Hand oder dem Arm und vergrössert seinen Körper aufgrund der Hand- bzw. Armhaltung auf unnatürliche Art. Diese unnatürliche Vergrösserung des Körpers liegt vor, wenn die Hand- oder Armhaltung weder die Folge einer Körperbewegung des Spielers in der jeweiligen Situation ist noch mit dieser Körperbewegung gerechtfertigt werden kann. Mit der vorgenommenen Hand- oder Armhaltung geht der Spieler das Risiko ein, dass der Ball an seine Hand oder seinen Arm springt und er dafür bestraft wird.
  • Ein Spieler befördert den Ball direkt mit der Hand oder dem Arm ins gegnerische Tor. Dabei ist es unerheblich, ob das Handspiel absichtlich oder unabsichtlich erfolgt.
  • Ein Spieler trifft ins Tor, unmittelbar nachdem er den Ball mit der Hand oder dem Arm berührt hat. Auch in diesem Fall spielt es keine Rolle, ob das Handspiel absichtlich oder unabsichtlich erfolgt ist.

Seit Jahren verzweifeln Profispieler wie Weltmeister Mats Hummels genau wie Trainer und Journalisten an dieser einfachen Frage: Wann ist Hand Hand? Zwischendurch kamen neue Bestimmungen, die Licht in Grauzonen bringen, und Erklärungen, die Zweifel beseitigen sollten. Woche für Woche, siehe Champions League am Dienstag, geraten die Schiedsrichter in Erklärungsnot.

Die Bundesliga-Schiedsrichter können nur anwenden, was ihnen das Regelwerk vorschreibt. Erklären können sie ihre Pfiffe im Einzelfall sehr gut. Was ärgerlich ist: Ähnliche Fälle werden zu oft unterschiedlich ausgelegt, sodass die beteiligten Spieler das Gefühl für die Rechtmässigkeit ihres Handelns verlieren. Darüber entbrennt dann jedes Mal Streit.

"Die Zahl der Handelfmeter hat sich in der Bundesliga stark erhöht. Waren in der Saison 2015/2016 nur 14 Prozent aller Elfmeter "Handelfmeter“, so stieg diese Zahl in der Saison 2020/2021 auf 23 Prozent. Dies ist insbesondere auf mehr Technik (z.B. mehr Kameras) und mehr Personal, z.B. den VAR, zurückzuführen, die viel mehr Handspiele sichtbar machen als zuvor.“ So schreibt es die DFL.

Kovac fordert Klarheit

Es muss den Verantwortlichen im Schiedsrichterwesen zu denken geben, wenn VfL Wolfsburgs Trainer Niko Kovac in einer Pressekonferenz sagt: "Das mit der Handspielregel ist für mich ein Desaster. Das muss ich ganz ehrlich sagen. Das hat keine Hand, hat keinen Fuss mehr. Das ist Willkür. Das ist für mich keine einheitliche Linie." Er will ja nichts Böses, sondern nur: Klarheit.

Diese Klarheit aber vermisst Kovac im Regelwerk und dessen Auslegung: "Man kann sich auf nichts festlegen. Es ist für mich Vabanque, würfeln. Heute so, morgen so. Der eine pfeift so, der andere nicht", echauffierte sich Kovac. Er selbst verstehe die Handspielregel "genau so wenig wie jeder andere auch". So geht es tatsächlich den meisten: Man kapiert's nicht mehr.

Denn laut DFL liegt in diesen Fällen kein Handspiel vor:

  • Prallt der Ball vom Kopf, Fuss oder dem restlichen Körper eines Spielers ab und berührt dabei den Arm oder die Hand desselben Spielers oder eines Spielers in der Nähe, gilt das nicht als Handspiel.
  • Ein Kontakt des Balls mit der Schulter gilt nicht als Handspiel.
  • Waren Arm oder Hand beim Ballkontakt nah am Körper und wurde der Körper demnach nicht unnatürlich grösser gemacht, liegt ebenfalls kein Handspielverstoss vor.
  • Berührt ein Spieler den Ball nach einem Sturz mit seiner Hand oder seinem Arm, wird dieser Vorgang selten als Handspiel gewertet, ausser der Spieler streckt die Arme oder Hände während des Sturzes seitlich oder senkrecht vom Körper weg.
  • Unabsichtliches Handspiel bei einer Torvorlage gilt seit der Saison 2021/2022 nicht mehr als strafbares Handspiel.

Absicht oder nicht? Massgebliche Berührung ja oder nein? Natürliche Handbewegung oder doch Vergrösserung der Körperfläche? Man wird verrückt. Patrick Ittrich, Schiedsrichter aus Hamburg, muss auf X zugeben: "Wenn wir jetzt neben der Bewertung des Handspiels an sich auch noch bewerten müssen, wie deutlich der Kontakt war, wird es noch grauer."

Verwendete Quellen:

Pit Gottschalk ist Journalist, Buchautor und Chefredakteur von SPORT1. Seinen kostenlosen Fussball-Newsletter Fever Pit'ch erhalten Sie hier. Fever Pit'ch ist der tägliche Fussball-Newsletter von Pit Gottschalk. Jeden Morgen um 6:10 Uhr bekommen Abonnenten den Kommentar zum Fussballthema des Tages und die Links zu den besten Fussballstorys in den deutschen Medien.

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