Friedrich Merz und Giorgia Meloni betonen Einigkeit in vielen politischen Fragen. Dabei führt Meloni die rechteste Regierung, die Italien je hatte. Sollte der Bundeskanzler nicht eher auf Distanz gehen? Ein Realitätscheck.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Lea Hensen sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfliessen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

"Italien ist das Sehnsuchtsland der Deutschen!" So überschwänglich klangen die Worte von Bundeskanzler Merz bei seinem Antrittsbesuch in Rom vor zwei Monaten. Der CDU-Chef und Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni verstanden sich prächtig. Bei praktisch allen europapolitischen Fragen seien sie sich einig, betonte Merz.

Zwei Wochen später sassen die beiden erneut zusammen. 14 Mitgliedsstaaten kamen auf Einladung der Italienerin am Rande des EU-Gipfels in Brüssel zusammen, um einen härteren Migrationskurs zu diskutieren. Olaf Scholz war dem Treffen 2024 noch ferngeblieben. Friedrich Merz setzte mit seiner Teilnahme ein Zeichen: Deutschland ist im Kreis der Regierungen angekommen, die die Migration deutlich begrenzen und Abschiebungen erleichtern wollen. Dabei zeigt sich Merz, der für Deutschland eine "Migrationswende" angekündigt hat, aufgeschlossen gegenüber dem harten Migrationskurs von Giorgia Meloni.

"Wir kennen die Schwierigkeiten, auch die Gerichtsentscheidungen, die es in Italien gegeben hat, etwa in der Kooperation mit Albanien", sagte der Bundeskanzler laut "Süddeutscher Zeitung" in Rom mit Blick auf Italiens Versuche, Asylverfahren nach Albanien auszulagern. Bislang blockierten Gerichte Melonis umstrittenes Albanien-Modell. Die Marine musste mehrfach Migranten nach Italien zurückholen, die sie zuvor nach Albanien gebracht hatte. Meloni wettert gegen die Richter, inzwischen liegt das Verfahren beim Europäischen Gerichtshof. Merz scheint das kaum zu beeindrucken. "Wir werden das auch in Deutschland prüfen, ob es solche Möglichkeiten gibt", sagte er.

Giorgia Meloni: "Halb so schlimm"?

Müsste sich der Bundeskanzler nicht stärker von Meloni distanzieren? Immerhin führt sie die "rechteste Regierung Italiens seit dem Zweiten Weltkrieg", wie etwa US-Medien nach ihrer Wahl 2022 titelten. Doch seitdem hat Meloni einen erstaunlichen Image-Wandel vollzogen.

Anfangs fürchtete sich noch halb Europa vor der "Postfaschistin", die gegen Europa, den Euro und Migranten hetzte. Melonis Partei "Fratelli d’Italia" hat unbestreitbar neofaschistische Wurzeln, im Parteilogo lodert die Flagge, die auch die Gruft von Mussolini schmückt. Italien hat seine faschistische Vergangenheit nie tiefgreifend aufgearbeitet, eine Kultivierung Mussolinis wird kaum geächtet. Doch in Melonis Partei tummeln sich die "Duce"-Nostalgiker geradezu.

Aber schon wenige Monate später war man erleichtert. Die "Postfaschistin" gab sich überraschend moderat. In Brüssel trat sie pro-europäisch auf, bekannte sich zur Nato und zur Hilfe für die Ukraine. Sie stellte sich gegen Wladimir Putin, suchte den Dialog mit europäischen Partnern und flog mit Ursula von der Leyen nach Tunesien, um dort ein Abkommen abzuschliessen, das man in Brüssel bis heute lobt. In konservativen Kreisen stieg ihre Beliebtheit schnell. Manfred Weber, Vorsitzender der EVP-Fraktion in Brüssel, kam laut "ZDF" bald zu dem Schluss, mit dem Rechtsstaat in Italien sei alles in Ordnung. Meloni führe "eine bürgerliche Regierung": "Sie macht, gestaltet europäische Politik."

Weniger bürgerlich, eher rechtskonservativ, regiert Meloni innerhalb Italiens. Mit harter Hand geht sie gegen Migranten vor, verlängert Abschiebehaft und erschwert Rettungsbooten den Einsatz. Oft müssen sie zwischen Häfen hin und her irren, bevor ihnen das Anlegen erlaubt wird, was Einsätze verzögert. Ihre Regierung führt einen ideologischen Kulturkampf, polemisiert gegen die LGBTQ-Community und besetzt Schaltstellen in Kultur und Medien mit ihren Leuten.

Meloni ist Erbin eines Systems

In Italien ist es gesetzlich vorgesehen, dass die Mehrheitsparteien die Leitung beim Staatsfernsehen RAI mitbestimmen. Schon lange verbiegen Nachrichtensendungen die Realität, um regierungstreu zu bleiben. Doch unter Meloni ist der Druck gestiegen. Immer wieder verklagt sie Journalisten und nimmt Einfluss auf Fernsehsendungen. Deswegen wird ihr Zensur vorgeworfen, etwa gegenüber dem Bestseller-Autor Antonio Scurati. Als der Mussolini-Experte am Gedenktag zur Befreiung vom Faschismus einen Vortrag über Italiens Beteiligung an Nazi-Verbrechen halten sollte, wurde dieser in letzter Minute aus dem Programm gestrichen.

Stehen in Italien also die Freiheitsrechte auf dem Spiel? Massimiliano Livi von der Universität Trier sieht die Regierung sehr kritisch, will aber differenzieren. "Melonis Vorhaben hat autoritäre Züge, doch bewegt sich immer noch im Rahmen der demokratischen Regeln", sagt er. Die italienische Demokratie sei stark und solide, der Rechtsstaat weiterhin intakt. Der Italien-Experte erinnert: "Die extreme Rechte prägt das politische Geschehen in Italien nicht erst seit Meloni. Sie ist seit Jahrzehnten Teil der politischen Kultur und war an mehreren Regierungen beteiligt."

Tatsächlich erscheint Melonis Regierung in einem anderen Licht, bedenkt man, dass es in Italien fast schon Tradition hat, dass Medien und Richter unter Druck geraten. Auch Melonis Mitte-Links-Vorgänger Matteo Renzi streute Verleumdungsklagen gegen unliebsame Journalisten. Berlusconi, die italienische Früh-Version von Donald Trump, kontrollierte fast das gesamte private Fernsehen und schrieb sich selbst Gesetze, um der Verfolgung durch die Justiz zu entkommen. Das macht Melonis Vorgehen natürlich nicht weniger problematisch. Aber es zeigt: Sie ist Erbin eines Systems.

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Was die Italiener ihr hoch anrechnen: Mit zwei Jahren Amtszeit führt sie die stabilste Regierung Italiens der letzten zehn Jahre. "Sie hat einen grossen Zuspruch aus der breiten Mitte der italienischen Gesellschaft, die traditionell eher konservativ und rechtsorientiert ist", sagt Livi. Er glaubt nicht, dass sie die demokratischen Regeln weiter aushöhlt. Denn dann würde sie den Grossteil ihrer Wähler verlieren.

Merz muss mit Meloni zusammenarbeiten – ob er will oder nicht

Man kann Merz also nicht vorwerfen, er fördere die Rückkehr des Faschismus, wenn er sich auf Meloni einlässt. Zur Wahrheit gehört nämlich auch: Er hat kaum eine andere Wahl. Will er die deutsche Wirtschaft wieder anzukurbeln, darf er gar nicht daran denken, die engen Wirtschaftsbeziehungen zwischen Deutschland und Italien zu riskieren. Allein die deutsche Automobilindustrie ist zu grossen Teilen von Zulieferern aus Norditalien abhängig.

Auch aussenpolitisch ist Merz auf gute Beziehung nach Rom angewiesen. "Deutschland hat nicht mehr die starke Position, die es noch unter Merkel hatte", sagt Livi. "Merz braucht Meloni als Partner, um sich in diesen komplexen Zeiten zu behaupten. Er will von ihrer Beliebtheit profitieren, sein Auftreten ihr gegenüber ist Kalkül." Zu den komplexen Zeiten gehört sicherlich der Krieg in der Ukraine, an deren Seite Meloni ausdrücklich steht – bei einer Ukraine-Konferenz in Rom beschwor sie den Zusammenhalt des Westens.

Zu den komplexen Zeiten gehört wohl auch der Handelsstreit mit den USA. Auch wenn ein Deal mit US-Präsident Donald Trump aktuell in weiter Ferne scheint, sind sich viele einig: Wenn jemand positiven Einfluss auf den Republikaner hat, dann wäre das Meloni. Die Italienerin gilt unter den europäischen Staatschefs als Trumps Liebling und setzte sich für eine konstruktive Lösung im Zollstreit ein. "Ich mag sie sehr", sagte der US-Präsident, als Meloni in Washington um seine Gunst warb. US-Vizepräsident J.D. Vance nannte Meloni eine "Brückenbauerin zwischen Europa und den Vereinigten Staaten".

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Meloni, Liebling der Rechtskonservativen

Merz will mit Deutschland eine Führungsrolle in Europa einnehmen. Dabei kommt er an Meloni schlicht nicht vorbei, denn sie hat sich längst zum Liebling der europäischen Rechtskonservativen gemausert, deren Einfluss in Brüssel wächst. Der italienische Migrationskurs ist heute europäischer Mainstream: Auch wenn das Albanien-Modell bislang nicht funktioniert, stösst es bei mehreren EU-Staaten auf Interesse. Melonis Plan war es, Migranten abzufangen, bevor sie EU-Boden betreten. Darauf zielt auch die Asylreform ab, die ab Sommer 2026 EU-weit greifen soll und Asylverfahren an die Aussengrenzen verlagert.

In der vergangenen Woche lud nicht Italien, sondern Deutschland zum Migrationsgipfel ein. Deutschland wolle zeigen, dass es "bei Migrationsthemen in Europa nicht mehr im Bremserhäuschen sitzt, sondern in der Lokomotive", wird Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU) in der "Tagesschau" zitiert. Diskutiert wurden Massnahmen, die über die EU-Asylreform hinausgehen: konsequente Abschiebungen auch nach Syrien und Afghanistan, EU-einheitliche Abschiebehaft und Rückführungszentren – auch ausserhalb der EU. Im Fokus steht dabei der Vorschlag, Abschiebungen in "sichere Drittstaaten" zu ermöglichen. Das alles dürfte in Melonis Sinne sein: Sie wird nicht müde, vor ihren Wählern zu betonen, dass man in Brüssel, Berlin und Paris tut, was sie will.

Über den Gesprächspartner

  • Dr. Massimiliano Livi ist Dozent an der Universität Trier für Neuere und Neueste Geschichte mit Schwerpunkt Italien. Er forscht zu Konservativismus und Populismus und hat mehrere Aufsätze zum Rechtsruck in Italien verfasst.

Verwendete Quellen