Spanien hat die besten Spielerinnen, das beste Kollektiv, die beste Spielidee und erscheint deshalb unschlagbar. Einiges erinnert an Hansi Flicks FC Barcelona und das könnte unter Umständen auch eine gute Nachricht für die deutsche Nationalmannschaft sein.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Stefan Rommel sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfliessen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Es gibt eine gute und eine schlechte Nachricht für die deutsche Nationalmannschaft. Die gute zuerst: Halbfinal-Gegner Spanien wird die Partie im Letzigrund-Stadion in Zürich nicht mit den besten Spielerinnen des Landes bestreiten. Die vielen Verwerfungen der letzten Jahre im spanischen Frauen-Fussball haben den Kader für die EM um einige hochkarätige Spielerinnen dezimiert, Ausnahmekönnerinnen wie etwa Mapi Leon vom FC Barcelona boykottieren weiter beharrlich ihre Rückkehr in die Mannschaft.

Die schlechte Nachricht aus deutscher Sicht: Auch ohne absolute Spitzenkräfte im Team stellt Spanien die individuell am besten besetzte Mannschaft des Turniers. Und nach den ersten vier Spielen und den dabei gezeigten Leistungen lässt sich wohl konstatieren: Spanien hat in der Gesamtbetrachtung aller Faktoren das beste Kollektiv von allen.

Altlasten nehmen bisher kaum Einfluss

Das war so vor dem Turnier vielleicht nicht zwingend zu erwarten, weil die Altlasten des Sommers 2023 noch immer ein wenig über der Mannschaft schweben und auch ganz konkreten Einfluss nehmen. Die Affäre um den ehemaligen Verbandspräsidenten Luis Rubiales und die Entlassung von Weltmeister-Coach Jorge Vilda hat tiefe Furchen gezogen im Verband und zum Teil auch innerhalb der Mannschaft.

Weshalb bis heute einige Spielerinnen keine Veranlassung sehen, in die Furja Roja zurückzukehren unter anderem auch deshalb, weil nach Vildas Entlassung seine ehemalige Assistentin Montserrat Tome zur neuen Chefin befördert wurde. Nicht bei allen Spielerinnen im Kader oder in dessen Dunstkreis kam diese Entscheidung gut an. Die Befürchtungen, dass darunter der Teamgeist und letztlich die Leistungen der Mannschaft bei der EM in der Schweiz leiden könnten, erwiesen sich bisher aber als unbegründet.

Grenzenloses Repertoire

Spanien hat zunächst seine Gruppe B mit drei Siegen aus drei Spielen und 14 erzielten Toren fast spielend dominiert und dann im Viertelfinale gegen die Schweiz zwar ein paar Probleme mit dem Toreschiessen gehabt – unter anderem mit gleich zwei verschossenen Elfmetern , sich letztlich von den verbliebenen vier Mannschaften aber mit Abstand am "einfachsten" für das Semifinale qualifiziert.

Mit einer kaum gesehenen Leichtigkeit im eigenen Ballbesitz und überragend vielen Positionswechseln spielten die Spanierinnen ihre Gegner bisher förmlich an die Wand, erdrücken ihre Widersacherinnen mit fast schon traditionell hohen Ballbesitzzahlen und endlosen, aber eben nicht ziellosen Ball- und Passstafetten.

Das Repertoire der Mannschaft scheint dabei in der Offensive fast grenzenlos: Sowohl durchs Zentrum, mit kurzen Steil-Klatsch-Passagen und Ablagen, als auch über die Flügel ist Tomes Mannschaft brandgefährlich, reissen Spielerinnen wie Mariona, Pina oder Mittelstürmerin Esther mit ihren ständigen Rochaden Lücken auch in den dichtesten Abwehrbund – in die dann wiederum die zweite Angriffswelle stossen kann.

Die beste Mittelfeldzentrale der Welt

So gefährlich die Sturmreihe in Spaniens 4-3-3-Grundordnung auch ist, das Herz des Spiels ist eine Linie dahinter zu verorten. Als Abräumerin vor der Abwehr macht Patri einen defensiv wie offensiv bestechend guten Job, wird dabei aber tatsächlich nicht nur von zwei Spielerinnen flankiert, sondern sogar noch übertroffen.

Alexia Putellas vom FC Barcelona ist nicht nur eine zweimalige Weltfussballerin, sondern auch eine der begabtesten Kreativspielerinnen der Welt. Kaum jemand vereint Dynamik, Tempo, Spielwitz und Übersicht so wie die 31-Jährige vom FC Barcelona.

Und doch ist Alexia noch eine Spur hinter der aktuell wohl besten Spielerin des Weltfussballs einzuordnen: Aitana Bonmatí ist in ihren Fähigkeiten jedenfalls absolut einzigartig. Niemand beherrscht die engen Räume so wie sie, keine andere löst selbst kniffligste Aufgaben und Gegnerdruck so elegant und scheinbar spielerisch auf wie die 27-Jährige, die ebenfalls zum Star-Ensemble des FC Barcelona gehört.

Aitana ist wie Alexia auch zweimalige Weltfussballerin und schon wieder kurz davor, ihren Titel bei der Wahl zu verteidigen. Es ist zumindest niemand in Sicht, der es mit dem Zauberfloh aufnehmen könnte. Aitana spielt so schlau und vorausschauend, so leichtfüssig und gewandt wie noch keine Spielerin zuvor und es ist für reine Fussball-Ästheten ein Genuss, ihr zuzuschauen.

Sie ist das Metronom der Mannschaft, bestimmt Rhythmus und Geschwindigkeit und hat ein untrügliches Gespür dafür, welches Mittel eine Partie gerade verträgt, um ihrer Mannschaft den Weg zum Sieg zu weisen. Und weil in ihrem Rücken die beiden Innenverteidigerinnen Aleixandri und Kapitänin Paredes absichern und zur Not auch mal rigoros abräumen, bleibt genug Freiraum für die kreative Zentrale des spanischen Spiels.

Spaniens Geheimwaffe ist unerreicht

Umso erstaunlicher, dass die eigentliche Geheimwaffe der Mannschaft eine Phase ohne eigenen Ballbesitz ist: Das spanische Gegenpressing ist mit weitem Abstand des beste der Welt. Niemand ist so flink im Kopf und in den Beinen und so aggressiv in Ballnähe als Kollektiv zusammengezogen wie die Spanierinnen, niemand erobert den Ball schneller zurück, niemand setzt dann sofort wieder den Umschaltmoment in die Tiefe fort wie diese Mannschaft.

Ballverluste nahe am eigenen Tor scheinen für jeden Gegner so gut wie unvermeidlich und damit eine latente Gefahr, wenn der Druck erstmal da ist. Aber, und das ist ein Ansatzpunkt auch für die deutsche Mannschaft: Das spanische Vorgehen in den Momenten nach einem Ballverlust birgt auch ein gewisses Risiko, wenn der Balldruck nicht sofort greift oder aber es dem Gegner gelingt, sich so schnell wie möglich zu befreien.

In einigen Szenen bei dieser EM war das zu sehen, dass dann die Sicherungssysteme der Spanierinnen auch verwundbar sind, dass es Gleichzahl- oder sogar Überzahlkonter für die Gegner gab. Das erinnert alles frappierend an den FC Barcelona mit Trainer Hansi Flick mit allen Chancen und Risiken, die ein solcher Stil mit sich bringt.

Deutschland braucht offensive Gegenmittel

Weil Tome aber von der Bank noch sehr prominent und hochtalentiert nachbessern kann, unter anderem mit Power-Dribblerin Salma Paralluelo oder Athenea, die das Viertelfinale gegen die Schweiz nur ein paar Minuten nach ihrer Einwechslung in die richtigen Bahnen lenkte, scheinen die Spanierinnen eine kaum zu nehmende Hürde.

Empfehlungen der Redaktion

Zu gut funktioniert das Kollektiv, sind die Abläufe eingeschliffen – bei gleichzeitig maximaler Kreativität. Einzig die Defensivbewegung offenbart bisweilen einige Lücken und auch Torfrau Cata Coll fällt im Vergleich zur sonstigen Weltklasse im Kader eine Spur ab.

Die deutsche Mannschaft wird sich mit der Igel-Taktik wie in Unterzahl gegen Frankreich kaum 90 Minuten oder noch länger gegen den Dauerdruck der Spanierinnen erwehren können. Das hat gegen ein letztlich einfallsloses Frankreich noch ebenso gereicht, gegen die Spanierinnen muss auf Dauer aber deutlich mehr offensive Entlastung her. Sonst ergeht es der Mannschaft von Christian Wück wie allen anderen: Früher oder später wird die spanische Dominanz zu erdrückend. Und die Gegentore fallen dann fast zwangsläufig.

Teaserbild: © picture alliance/Beautiful Sports/Wunderl